Siebzehn

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Die restlichen Tage sind nur dahin geflogen. Wir haben die Stadt erkundet und ein paar Unternehmungen gemacht. Die Abende habe ich zusammen mit Leslie verbracht.

Kaum zu glauben, dass wir heute schon wieder fahren. Ich würde gerne noch länger in dieser Parallelwelt bleiben. Zuhause wartet die Realität auf mich. Ich will gar nicht daran denken.

„Kann ich dich etwas fragen?", will Marc von mir wissen.

Wir stehen auf dem Rastplatz und versuchen die Schüler im Blick zu behalten, was gar nicht so einfach ist.

„Klar."

„Einige der Schüler behaupten, dass sie Leslie und dich zusammen gesehen haben, wie ihr euch geküsst habt. Ist das nur ein Gerücht oder die Wahrheit."

Ich muss schlucken und kann es nicht fassen. Wir hätten vorsichtiger sein müssen. Wie konnte ich es nur zulassen, dass wir Gefahr laufen gesehen zu werden.

„Das haben die sich nur ausgedacht. Zwischen Leslie und mir läuft rein gar nichts", sage ich kühl. „Du weißt doch, dass ich eine Freundin habe."

„Ich weiß. Ich wollte nur nachfragen", meint er.

Jetzt wäre meiner Meinung nach der richtige Zeitpunkt für eine ZombieApokalypse. Dann würden alle schnell vergessen, was zwischen mir und Leslie ist oder eben nicht. Jeder wäre nur noch damit beschäftigt sein eigenes Leben zu retten. Keiner würde sich mehr Gedanken über dumme Gerüchte machen. Leider passiert das nicht.

„Wollen wir wieder rein?", fragt Marc.

Die restliche Busfahrt versucht Leslie immer wieder mit mir zu reden, aber ich lasse sie mehr oder weniger abblitzen. Wahrscheinlich hat sie noch nichts mitbekommen und es ist unfair von mir, dass ich so reagiere, aber ich weiß nicht was ich sonst tun soll. Ich möchte den Schülern nicht noch mehr Gründe geben, um ihre Gerüchte weiter zu verbreiten. Irgendwann gebe ich vor eingeschlafen zu sein.

Die Fahrt zieht sich wie ein altes Kaugummi, dass man schon viel zu lange gekaut hat und ich bin froh, als der Bus vor der Schule hält. Auf den Gehweg stehen schon die Eltern, um ihre Kinder abzuholen. Die Schüler drängen sich schon in Richtung Ausgang und können es kaum erwarten auszusteigen. Ich sehe aus dem Fenster und kann Helens, beziehungsweise unser, Auto sehen. Helen lehnt an dem blauen Wagen und raucht eine Zigarette.

Schon alleine bei dem Gedanken mich zu ihr ins Auto zu setzen, fühle ich mich unheimlich schuldig. Wie kann ich ihr nur in die Augen sehen? Ich habe sie mit einer anderen Frau betrogen. Die Apokalypse würde mir jetzt wirklich wirklich gut passen.

„Hey, aussteigen", sagt Leslie und reißt mich somit aus meinen Gedanken.

„Klar", erwidere ich und stehe hastig auf.

Die meisten Schüler sind schon verschwunden. Schnell nehme ich meinen Koffer aus dem Gepäckfach und gucke erst gar nicht, wo Leslie gerade ist. Ich laufe geradewegs in Helens Richtung auf sie zu.

Kurze Zeit später finde ich mich in ihren Armen wieder und muss mich zusammen reißen, um nicht los zu heulen.

„Ich habe dich vermisst", flüstere ich.

Es ist nicht wirklich die Wahrheit, aber auch keine Lüge. Ich habe Helen vermisst, aber in so vielen Momenten, in denen ich mit Leslie zusammen war, habe ich sie ganz vergessen.

„Ich dich auch", nuschelt sie.

Ohne darüber nachzudenken drücke ich meine Lippen auf ihre und küsse sie. Sie hat mir wirklich gefehlt, aber jetzt bin ich endgültig total durch den Wind.

„Ich dachte du wolltest nicht, dass die Schüler es wissen", murmelt Helen, als wir uns voneinander lösen.

Ich antworte nicht, sondern drehe mich um und mein Blick trifft den von Leslie. Verzweifelt sieht sie mich an, als wäre ich ein Geist. Sie hat gesehen, wie ich Helen geküsst habe. Leslie muss erkannt haben, dass Helen und ich uns schon lange kennen. Ich wollte nicht, dass sie es sieht, aber jetzt muss ich ihr wenigstens nicht mehr erklären, dass ich ihr die ganze Zeit etwas vorgespielt habe, dass ich single wäre. Trotzdem tut sie mir leid und es fühlt sich an, als hätte ich gerade einen wichtigen Teil meines Herzens verloren.

„Annalena?", höre ich Helens Stimme hinter mir.

„Was ist?", will ich wissen.

„Wollen wir fahren?"

„Klar", antworte ich gedankenverloren und starre noch einen Moment lang auf die Stelle an der Leslie gerade noch stand.

Sie ist weg und ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Eins ist klar, ihre Gefühle für mich waren echt und ich habe sie verletzt. Ich wollte das niemals.

„Dann komm' schon", fordert Helen mich auf.

Wir fahren nachhause und Helen fragt mich über die Klassenfahrt aus. Ich beantworte ihre Fragen, lasse die Teile mit Leslie aber weg. Das kann ich ihr nicht antun. Es ist schlimm genug, dass ich Leslie verletzt habe. Aber Helen? Ich kann ihr nicht weh tun. Das würde ich mir niemals verzeihen. Nie.

„Wie war deine Woche?", erkundige ich mich bei ihr, um nicht mehr über London reden zu müssen.

Ich habe einfach Angst, dass ich Leslie erwähne. Meine Freundin redet vor sich hin, aber ich höre nicht wirklich zu. In Gedanken bin ich wo ganz anders. Bei dem was die letzten Tage passiert ist. Ich hätte mich einfach von Leslie fern halten sollen. Hätte ich nein gesagt, als sie mich damals gefragt hat, ob ich mit nach London fahre, wäre das alles nicht passiert. Dann würde ich jetzt nicht in diesem Schlamassel stecken, obwohl es das nicht einmal annähernd beschreibt.

„Wollen wir heute Abend Pizza bestellen?", schlägt Helen vor.

„Gerne", antworte ich. „Ich bin echt zu müde, um heute Abend noch etwas zu kochen."

Helen muss lachen und parkt den Wagen vor unserer Wohnung. „Nicht nur du bist müde."

Ich lächele kurz, für mehr reicht es nicht. Wir gehen nach oben und Helen bestellt die Pizza während ich im Bad verschwinde. Ich dusche , aber ein schlechtes Gewissen kann man nicht einfach weg waschen. Ich denke immer wieder darüber nach, ob ich Helen alles beichten sollte, aber ich kann es nicht. Wenn es umgekehrt wäre, dann würde ich nicht damit klar kommen. Schließlich ist die Sache zwischen Leslie und mir, wie es aussieht, vorbei. Vielleicht muss ich es Helen nie sagen. Die Schüler werden keinen Grund mehr haben ihr blödes Gerücht über Leslie und mich zu verbreiten, weil sie gesehen haben, wie ich Helen geküsst habe. Das einzige was sie jetzt herum erzählen werden ist, dass ich lesbisch bin. Damit kann ich leben. Aber ich könnte nicht damit leben Helen zu verlieren.

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Team Helen oder Team Leslie?

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