goldener Käfig

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Kapitel 1
Jetzt
Nora betrat mit einem Tablett in der Hand, den nur notdürftig ausgestatteten Raum und zuckte nicht einmal mit der Wimper, als sie ihren Verstand auf die vor ihr liegenden Szenarien verarbeitete. Alec stand vor einem an einen Stuhl gefesselten Mann in der Mitte des Raumes und riss in diesen Augenblick einen weiteren Fingernagel seines Opfers aus der Hand. 

Das Wimmern, das Betteln und auch die Schreie hätten sie erschrecken sollen, doch wenn Nora ehrlich zu sich war, hatten sie Folter und Gewalt noch nie wirklich gestört. Was sie störte, war der immer größer werdenden Blutfleck auf den Mullbinden an Alecs nackten Oberkörper. Nachdem heute Abend so viel schiefgelaufen war, hatte er sich eigentlich schonen sollen. Er war verletzt und dennoch bewegte er sich so effizient, als hätte sie ihm nicht erst vor einer halben Stunde eine Kugel aus dem Körper operiert. Wenn er seinen Körper nicht bald die nötige Ruhe gönnte, würde die Wunde so weit aufreißen, dass sie sie würde nähen müssen. Und dann würde eine weitere Narbe diesen wunderschönen, maskulinen Körper verunstalten, der ihr Innerstes in Aufruhr versetzte.

Alec war gerade dabei seine Zange an den dritten Fingernagel des gefesselten Mannes anzusetzen, als Nora an ihm vorbeiging und das Tablett abstellte. Sofort hatte sie seine Aufmerksamkeit. Dafür hatte es nie mehr bedurft, als sich in seiner Nähe aufzuhalten. Als würde dieses gefährliche wunderschöne Monster einem Zwang erliegen, den er nicht abschütteln konnte. Solange sich daran nichts änderte, würde er ebenso Noras Gefangener sein, wie sie der seine. Nur auf eine andere Weise.

Seine dunklen Augen legten sich auf sie, streiften ihre Lippen, ihren Hals, der dank ihrer hochgebundene Haare gut zu erkennen war und glitten dann weiter hinab zu den Ausschnitt ihres Oberteils. Während die Schreie des Mannes immer noch den Raum zerfetzten, richtete sich Alec zu seiner vollen Größe auf und kämpfte mit sich. Adrenalin pumpte durch seine Adern. Das Foltern machte ihn nicht direkt an, brachte sein Blut aber immer zum Kochen und in Kombination mit ihrer Anwesenheit, nagte das stark an seiner Selbstbeherrschung. Aber er würde sie nicht anfassen. Das hatte er in den letzten acht Monaten nicht getan, die er sie schon gefangen hielt, und er würde es auch in Zukunft nicht tun. Er wollte sie, aber er würde sie nicht gegen ihren Willen nehmen.

Nora machte sich nichts vor. Der Mann vor ihr war trotz seiner äußerlichen Perfektion ein Mann ohne Tabus. Von seinem großen, starken Körper, wo jeder Muskel und jede Faser fein definiert war, seinen kantigen Gesichtszügen und diesen Ausdruck in den dunklen Augen, würde sich jede Frau angezogen fühlen. Aber er war nicht gut. Alec war so weit von einem anständigen Kerl entfernt, wie es nur möglich war. Er mordete für Geld, folterte aus Langeweile und er hätte definitiv keine Skrupel sich eine Frau zu nehmen - selbst gegen ihren Willen. Nur eben nicht bei ihr.

Niemals bei ihr.

Nora wandte sich von ihm ab, füllte das Glas auf dem Tablett mit Wasser und ging auf den gefesselten, winselnden Mann zu ohne Alec auch nur anzusehen. Als sie dem Gefangenen das Glas an den Mund setzte, hörte er auf mit Schreien, trank das Wasser gierig und sah hoffnungsvoll zu ihr auf.

„Was zum Teufel machst du da?", fragte Alec gereizt und umfasste ihren Oberarm mit einem stahlharten und definitiv schmerzhaften Griff. Er mochte sich ihr nicht aufdrängen, aber das bedeutete nicht, dass er sie mit Samthandschuhen anfasste. Nora war sich sicher, dass er auch das irgendwann unterlassen würde, aber noch war es zu früh dafür. Es waren schließlich erst acht Monate her und das Monster in ihm wusste noch nicht, was er mit dem Mädchen machen sollte, das er verschleppt hatte. 

„Er stirbt dir weg, wenn du ihm nicht etwas zu trinken gibst", erklärte sie etwas träge und sein Griff um ihren Oberarm wurde so fest, dass sie ihren Kopf in seine Richtung drehte. Sein Gesichtsausdruck war zornig. Er missinterpretierte ihre Geste als Mitleid, als Zeichen dafür, dass sie nicht billigte was er tat. Dabei sollte gerade er es besser wissen. 

„Er kann mir sowieso nicht mehr weiter helfen. Er weiß nichts mehr." Was Alec nicht davon abhielt weiter seine Spielchen mit dem Mann zu spielen. Nora machte einen Schritt auf ihn zu, sie war fast einen Kopf kleiner als er und kam ihm so nahe, dass sie den Kopf nach hinten beugen musste, um ihn weiter ansehen zu können. Sie hatte keine Angst vor dem Monster in diesem Mann. Monster mochten sie in der Regel und dieses hier ganz besonders. 

„Er hilft dir dabei, dich abzureagieren. Du bist immer noch sauer, weil Viktorius dir entkommen ist", flüsterte sie nahe an seinem Kinn, sodass ihr Atem heiß über seine Haut strich. Der Griff um ihren Arm wurde lockerer und seine Hand glitt zu ihrem Rücken. Er zog sie noch ein Stück enger, schloss den Abstand zwischen ihnen, bis ihre Brüste gegen seinen nackten Oberkörper drückten. In der anderen Hand hielt er immer noch die Zange mit dem abgerissenen Fingernagel, an dem mehr Fleisch hing, als es hätte sein müssen.

Alec roch nach Schweiß, Blut und nach Mann. Maskulin, herb und teuflisch delikat. Auch sie fühlte sich zu ihm hingezogen. Das hatte sie immer, aber noch war es nicht an der Zeit diesem Drang nachzugeben.

„Angst, dass ich mich an dir abreagieren könnte?", fragte er wohl wissend um ihre Manipulation und der Art und Weise, wie sie versuchte ihn weiter in die Abhängigkeit zu treiben, um ihr eigenes Überleben zu sichern. Genauso wie er versuchte sie an sich zu binden - mit Gefühlen, die sie nicht hatte. Zu denen sie beide nicht imstande waren. Gewalt und Lust, mehr war da nicht, aber in Gegensatz zu Alec fühlte sich Nora dadurch tatsächlich unvollständig.

„Nein. Das würdest du nicht tun." Er schmunzelte, beugte seinen Kopf weiter zu ihr herab und roch an ihrem Haar. Seine Nasenspitze streifte ihre Wangenknochen und sie spürte Angst in sich aufsteigen. Sie unterdrücke sie und wartete geduldig, bis er fertig war sich an ihr zu reiben. Er war gefährlich und egal welche Macht sie glaubte über ihn zu haben. Sie war nicht dazu in der Lage, ihn zu kontrollieren und durfte sich nicht zu viel herausnehmen. Also blieb sie ungerührt, während seine Hand ihr Rückgrat auf und ab strich und sich dann in ihren Nacken legte. Er zwang sie dazu, den Kopf zur Seite zu legen und dann fühlte sie seine heißen Lippen nahe an ihrem Puls und ein kleines Zwicken in ihren Ohrläppchen, das sie bis ins Mark erregte und gleichzeitig ängstigte.

„Gib ihm noch ein Glas und dann ruf mir ein Mädchen, sonst vergesse ich mich wirklich noch." Er ließ sie so abrupt los, dass es einer Abweisung gleich kam. Dennoch verzog sie keine Miene, als sie das Glas noch einmal auffüllte und dem Mann am Stuhl einflößte, der sie nun nicht mehr hoffnungsvoll ansah. Wenn er nach dieser Show tatsächlich noch glauben würde, sie würde ihm helfen, wäre er ein riesen Idiot und das waren tschechische Generäle selten. Nora verließ den Raum, ohne zu zögern und ohne darauf zu achten, dass Alec seine Zange nun zwischen zwei Finger seines Opfers ansetzte und mit purer Kraft versuchte die Muskeln zu zerreißen.

Als sie wieder im Flur war, klang kein Laut von dem Zimmer nach außen. Alecs Spielzimmer war absolut schallisoliert, sehr zu Noras Wohlbefinden. Denn obwohl sie eine Gefangene war, Alec sie nie gehen lassen würde, hatte sie es sich in diesem Haus gemütlich gemacht. Sie hatte das vollmöbielierte Haus, das Alec erworben hatte und als seinen Hauptwohnsitz auserkoren hatte, genau so verändert, wie sie es gerne gehabt hatte. Von den neuen Farben an den Wänden bis hin zu den frischen Blumensträußen die auf den modernen Möbeln standen. Sie hatte Garnituren verschoben und Bilder neu platziert, sich ihr Zimmer ausgesucht und sich alles an Küchengeräten bestellt, was sie als erforderlich erachtet hatte. Es mochte ein Käfig sein, aber es war einer, in dem sie sich wohlfühlen wollte.Zielsicher griff Nora zum Haustelefon, um eine auswendiggelernte Nummer einzugeben, die dafür sorgte, dass Alec seit acht Monaten bereits die Finger von ihr ließ. Eine Nummer, die sie immer seltener wählen musste. Nach dem dritten Klingeln ging eine Frau ran, Nora stellte sich nicht vor, nannte nur eine Adresse und die Gegenfrage war ebenso simpel: 

„Das übliche?" Nora überlegte.

„Ja." Das Übliche. Das bedeutete eine Prostituierte, die alles aushielt und Spaß daran hatte gequält und misshandelt zu werden. Eine Prostituierte, die Nora ähnlich sah. Braune, lange locken, blaue Augen, goldene Haut. Die letzten Punkte waren nicht Alecs Wünsche, sondern ihre eigenen, denn sie konnte ja nicht zulassen, dass ihr Monster jemals wirklich das Interesse an ihr verlor.

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