Vergangenheit

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Kapitel 21
Nora schrie auf, als Alec den Wagen durch ein Schlagloch lenkte und sie damit auf der Rückbank aus ihren fast erholsamen Schlaf riss. Sie hatte ja immer gedacht, dass er wie ein Bluthund hinter einem Ziel her sein konnte, aber das es auch für Ziele galt, von denen er sich erst einmal hatte überzeugen lassen müssen, hatte sie nicht geahnt.
„Wo sind wir?", fragte sie schlaftrunken und versuchte die Landschaft außerhalb des Wagens zu deuten. Alec bretterte mit wesentlich mehr als der erlaubten Höchstgeschwindigkeit über diese Landstraße.
„Noch fünfzig Meilen, dann sind wir bei ihm." Wow, das war zwar ziemlich beeindruckend, aber Nora gefiel das ganz und gar nicht.
„Wann hast du zum letzten Mal eine Pause gemacht?", fragte sie und ihr Rücken schmerzte, als sie sich bewegte. Sie hatte bereits zwei Nächte im Wagen verbracht und bis jetzt hatte Alec nur gehalten damit sie essen oder ein öffentliches Bad aufsuchen konnten. Aber langsam nervte dieser Campingtrip, denn langsam gingen Nora die frischen Klamotten aus.
„Ich brauche keine Pause!", zischte er knapp und die Tonlage war mit Sicherheit absichtlich so rau wie möglich gewählt, um sie vor weiteren Fragen abzuhalten. Aber Nora war schließlich Nora.
„Alec! Fahr rechts rann!", sagte sie und ohne einen Einwand hielt Alec am Straßenrand. Es war mitten in der Nacht und der Lichtkegel der Autoscheinwerfer offenbarte einen dichten Fichtenwald auf beiden Seiten der Fahrbahn. Sie mussten sich irgendwo im Norden oder tiefer im Osten Europas befinden.
Als Nora Ausstieg fiel ihr als Erstes diese unsagbare Kälte auf, die sie glaubte in diesem Ausmaß noch nie gespürt zu haben. Sie war in Mexiko groß geworden und hatte diesen Ort vorher auch noch nie verlassen. Sie war auf dem Gelände ihres Vaters geboren worden und wenn es jemals eine Geburtsurkunde gegeben hatte, war sie nun nur noch Asche. Wie der Rest ihres Elternhauses.
Alec hatte ihr eine ganze Menge gefälschter Pässe besorgt, die notwendig waren um bestimmte Grenzen zu überqueren. Nora hatte sich gefreut etwas mehr von der Welt zu sehen, aber auf diese Kälte konnte sie verzichten.
Zu Alecs Überraschung ging sie zu ihm auf die Fahrerseite und riss seine Tür auf. Wahrscheinlich hatte er damit gerechnet, dass sie sich würde erleichtern müssen. Aber sie hatte etwas anderes vor als einen Toilettengang.
„Ich fahre!", verkündete sie und zog die Achseln nach oben um sich ein wenig vor der Kälte zu schützen.
„Vergiss es. Du bist verrückt." Erwiderte er abfällig. Nora konnte Autofahren, ihr Vater hatte es ihr beibringen lassen, damit sie einigen Runden auf dem Gelände ihres Vaters hatte drehen können. Er hatte ihr ja nie wirklich etwas ausgeschlagen, solange man es ihr in diesem Verlies erfüllen konnte.
„Du bist übermüdet und wenn du John so gegenüber trittst, bist du unkonzentriert. Das könnte uns unser Leben kosten! Entweder ich fahre weiter oder wir bleiben hier stehen und du schläfst so eine Runde!" Ihm entfuhr ein herablassender Laut, dann schnallte er sich ab und stieg ebenfalls aus dem Wagen. Weiße Wölkchen bildete sich bei jeden seiner Atemstöße.
„Steig wieder in den Wagen, Nora! Das hier ist nicht das Grundstück deines Vaters, das hier ist Europa im Spätherbst! Du kannst nicht mal die Sprache, wenn uns ein Polizist anhält und uns fragt wo wir hinwollen."
„Englisch ist Weltsprache!", meinte sie und streckte ihm die Nase stolz entgegen. Alec gluckste nur erheitert. Nora war dank ihrer amerikanischen Mutter mit dieser Sprache groß geworden und Englisch war auch die Sprache, die im Haus ihres Vaters benutzt wurde, aber sie sprach natürlich auch spanisch - wie jetzt gerade mit Alec.
„Süße, wir befinden uns in dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion. Genauer in Tschechien und hier wird dir weder Spanisch noch dein Englisch etwas bringen. Wenn die Leute hier irgendeine Fremdsprache verstehen, dann Russisch!", meinte er, trat noch einen Schritt auf sie zu, was sie zwang zurückzuweichen und schob sie zurück in Richtung der Rückbank.
„Und du kannst Russisch?", fragte Nora verdutzt. Ja, er hatte lange für ihren Vater in Russland gearbeitet, aber das war Jahre her und das was er machen musste, war sicher nichts, wozu er sich hätte mit anderen unterhalten müssen.
„Ist meine Muttersprache, steig jetzt wieder in den Wagen!" Nora aber versuchte sich ihm entgegenzustellen, sie hatte keine Lust sich von ihm einfach abschieben zu lassen.
„Was? Wie? Es ist deine Muttersprache? Du bist Russe?", fragte sie verwundert und langsam verlor Alec die Geduld. Er griff um sie herum, warf sich ihren Körper über die Schulter, bevor er die hintere Wagentür öffnete und sie zurück auf das warme Leder warf, wo sie eben noch geschlafen hatte.
„Du holst dir den Tod, wenn du im T-Shirt hier draußen mit mir diskutierst!", knurrte er nur, warf die Tür hinter ihr wieder lautstark ins Schloss und setzte sich wieder hinter das Lenkrad. Nora konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Nicht nur, weil er wohl gemerkt hatte, dass sie fror und es ihm wichtig schien, dass sie es eben nicht tat, auch, dass er diese Diskussion offensichtlich zuließ. Er hatte nämlich nicht gesagt, dass sie sich den Tod holte, weil sie mit ihm diskutierte. Sonst hatte er ihr ständig mit einem grausamen Tod gedroht, aber die Phase hatten sie wohl hinter sich.
Weil er wollte, dass sie ihn liebte.
Bei dem Gedanken machte ihr Herz kurz einen Satz, aber bei weitem nicht genug um ihren Kopf dazu zu bringen nicht neugierig nachzufragen.
„Du kommst aus Russland?", fragte sie nach, nachdem er den Wagen wieder gestartet hatte. Alec seufzte frustriert auf.
„Ich bin nicht in Europa geboren, meine Eltern kommen aber beide aus Russland, ja", knurrte er und Nora, die sich die Decke fester um die Schultern schlang, betrachtete Alec eingehender. Sah man es ihm an? Ein wenig vielleicht. Er hatte schon sehr raue Gesichtszüge und seine Haut war nicht so bronzefarben wie dir ihre. Es sah eher so aus, als würde er einfach viel Zeit in der Sonne verbringen. Was er auch getan hatte, indem er in Mexiko aufgewachsen war - anscheinend. Seine Haare waren dennoch pechschwarz genau wie seine Augen. Seine Statur war aber tatsächlich unüblich für Mexiko. Er war etwas größer als die Männer dort und hatte definitiv mehr Muskelmasse, dazu dieser ständig grimmig wirkende Blick. Er sah wirklich wie ein Russe aus, wenn man das überhaupt optisch festmachen konnte.
„Du warst also kein Straßenkind, dass sich im Geschäft meines Vaters hochgearbeitet hat?", das hatte sie ja von Anfang an vermutet.
„Ich habe dir das schon am ersten Tag als Leibwächter deutlich gemacht", blaffte er etwas ungehalten. Nora zog unbeeindruckt von seiner immer schlechter werdenden Laune die Augenbrauen hoch. Er war unausgeschlafen und aggressiv, aber er war schließlich derjenige der sich nicht ausruhen wollte, also war das alleine seine Schuld. Sie würde darauf keine Rücksicht nehmen!
„Du hast angedeutet, dass du aus gutem Hause stammst, mehr nicht. Von Russen war nie die Rede! Warum war deine Familie in Mexiko?", stichelte sie weiter. Alec setzte einen Blinker und fuhr tiefer in die Pampa hinein. Nora war sich sicher seit Meilen schon kein anderes Auto mehr gesehen zu haben.
„So richtig habe ich das nie verstanden. Sie sind aus Moskau raus, weil es zu eng geworden ist. Die Familie, aus der mein Vater stammte, wurde zu groß und hat alle Möglichkeiten Geld zu machen ausgeschöpft. Mein Vater wollte etwas Eigenes aufbauen und versucht in Mexiko Fuß zu fassen. Hat nicht funktioniert."
„Wegen meinem Vater", sagte Nora. Das war eine simple Feststellung. Alec nickte nur. „Dein Vater mag keine ausländische Konkurrenz und damals hatte er noch genug Biss, um sich durchzusetzen. Meine Eltern wurden ermordet und mich hat man mit zehn einfach auf der Straße ausgesetzt. Ich habe mich dann selbst durchgeschlagen." Das erklärte das Bild vom Straßenkind, das Nora aus irgendeinem Grund in ihrem Kopf hatte. Denn so war es tatsächlich.
„Hat mein Vater dich deswegen nach Russland geschickt, um dich zu beweisen? Weil er wusste, dass du von dort kommst?" fragte sie weiter und Alec lachte nur.
„Wenn dein alter Herr gewusst hätte, wenn er da acht Jahre später diesen Auftrag gegeben hatte, hätte er es wohl sein lassen. Er hat mich auf meine eigene Verwandtschaft angesetzt." Das verschlug Nora dann doch endlich die Sprache und das schien Alec ausgesprochen gut zu gefallen.
„Ja, Nora. Dein Vater war auf seine letzten Jahre nicht unbedingt der cleverste..."
„Aber, es hieß, du hättest ihm gute Dienste geleistet, dass er sehr zufrieden mit dir war", gab sie an, denn sie hatte immer gedacht, das Alec kompromisslos erledigt hatte was auch immer ihr Vater ihm all die Jahre in Russland hatte machen lassen. Wieder ein Kichern.
„Ach, Nora, was denkst du denn? Das ich die dreck Familie verschone die sich ein Scheiß um meine Eltern und mich gekümmert hat, als wir sie gebraucht hätten? Glaubst du, für deinen Vater wären es mehr als nur ein paar Ausländer gewesen, an die er sich letztendlich nicht einmal erinnerte, wenn meine sogenannte Verwandtschaft sich eingemischt hätte? Ja. Ich habe alle Aufträge deines Vaters erledigt und ein wenig meine eigene Rache verfolgt. Aber vor allem habe ich gelernt, wie der Hase läuft und einen ausführlichen Einblick in die Verbrechensszene bekommen, um genau zu wissen, wie ich deinen Vater am besten hintergehen konnte. Ein Straßenjunge und Laufbursche hätte diese Möglichkeit nie gehabt."
Da hatte er recht und obwohl es Nora hätte schockieren sollen das Alec wohl tatsächlich alles um sich herum hasst, wurde ihr doch schnell klar, dass es ihn auch sehr einsam machte und dieses Gefühl kannte sie nur allzu gut. Er war nicht weniger allein auf dieser Erde als sie, vielleicht sogar noch mehr. Aus einem Instinkt heraus lehnte sie sich nach vorne und legte ihr Kinn auf seine Schulter.
„Dann lass und diese Leute umbringen, die glauben uns jagen zu können. Dann werden wir Victorius ausschalten und uns was Eigenes aufbauen", schnurrte sie und drückte ihn glücklich einen warmen Kuss auf den kräftigen Hals. Alec antwortete nicht, aber das war Nora egal. Sie legte sich wieder auf die Rückbank und versuchte zu schlafen. Sollte er mit ihren Worten anfangen, was er wollte.

Beta: MrsGeany

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