Kapitel 4

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Kapitel 4

Nachdem mein Wochenende sich als wirklich uninteressant herausstellte, war ich fast erleichtert, als am Montag um sechs Uhr in der früh der Wecker klingelte. Das hat mich verwirrt; warum würde ich die Schule, mit hunderten von Jugendlichen mit einem viel zu hohem Hormonausschuss, über ein ruhiges Wochenende in meinem Zimmer stellen, mit zugezogenen Vorhängen, laufender Musikanlage und meinem aufgeschlagenen Notizbuch vor mir?

Dann fiel mir zu meinem erschrecken auf, dass ich mich innerhalb meines ersten Monats in diesem Land bereits verändert hatte.

1) Ich schrieb in unregelmäßigeren Abständen, dieses Wochenende hatte ich jede Sekunde notiert, während ich momentan eher Nacherzähle.

2) Ich redete mehr mit Leuten (Ich kannte bereits zu viele Namen. Ben, Joyce, Collin,...)

und, zu guter Letzt, 3) Ich möchte mich lieber mit Leuten unterhalten, als in meinem Zimmer allein zu sein.

Werde ich gerade zu einem normalen Menschen?

Diese Frage schwirrte mir in den nächsten Minuten im Kopf herum, als ich duschen ging und meine Haare föhnte, mich umzog und meine Schulsachen in meinen Rucksack schmiss. Doch als ich hinunter ging und mein Vater mir einen „Guten Morgen" wünschte und ich nicht einen Piep vor meinem eigenen Vater herausbrachte, beantwortete ich mir die Frage mit einem ganz einfachen:


Vielleicht nicht ganz.

Das angenehme daran, mit meinem Vater zu leben, war, dass es sich nicht anfühlte, als würde ich mit meinem Vater leben. Ob es daran lag, dass er 13 Jahre meines Lebens bloß durch Bilder mitbekam oder daran, dass er mitten in seiner Midlife-Crisis steckte und deshalb keine Autoritätsperson darstellte, weiß ich nicht. Es war mehr so, als würde ich mit einem Mitbewohner leben; ein Mitbewohner, der viel arbeitet und meine Miete zahlt und nebenbei an meiner Zeugung beteiligt war, aber ihr versteht den Punkt. Es war nicht so, als würde mein Vater vor mir stehen und mir Kaffee machen. Eher war es ein 39-Jähriger Mann, der vielleicht, unter Umständen, ein Freund werden könnte.

Französisch wurde heute in meine vierte Stunde verlegt, was bedeutete, dass ich eine Freistunde, Geschichte und Physik vor Französisch hatte. In meiner Freistunde holte ich mir Frühstück vom Bäcker und setzte mich in den Raum, der speziell für die älteren Klassen reserviert war. Meine Freistunde wäre gleichzeitig meine erste Stunde gewesen, was bedeutet, dass alle anderen, die mit mir Französisch gehabt hatten, höchstwahrscheinlich noch schliefen und ich alleine im Raum saß. Es war eine angenehme Atmosphäre; ich saß direkt am Fenster, vor mir ein Brötchen, belegt mit Schinken, Salat und Remoulade. Der Raum lag im Obergeschoss und wenn ich hinaussehe, habe ich einen schönen Überblick über die eine Hälfte des Geländes mit dem Sportplatz. Es war sehr neblig draußen, der Nebel schwebte leicht über das Feld. Es war still, bis auf das ticken der Uhr war absolut kein Geräusch zu hören, da entweder unterrichtet wurde oder keiner sonst anwesend war.

Es war herrlich und zugleich beunruhigte es mich. Seltsamerweise fand ich keine Ruhe mehr in der Stille. Es war, als würde etwas auf mich warten. Ein Ereignis, dass ich nicht kontrollieren könnte. Und ich wusste nicht, wann es passierte.

Geschichte war für mich, anders als für die meisten, eines der spannendsten Fächer, die man haben kann. Es ist unglaublich, was die Menschheit bereits erreicht hat, wie sie sich weiterentwickelt hat, gelernt hat, erfunden hat. Und natürlich, wie die Menschheit es immer wieder schafft, dieselben dummen Fehler zu machen. Andersherum war ich kein Fan von der Physik. Sicherlich war es ein interessantes Thema, wenn man genügend Lebenswille besitzt, um sich diesem Fach hinzugeben. Denn meiner Meinung nach muss man, um die Physik zu verstehen, sein Leben investieren.

bruyamment//lautWo Geschichten leben. Entdecke jetzt