Kapitel 10

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Kapitel 10

Ich öffnete meine Augen und sah mich in meinem Zimmer um. Als ich gestern Nacht nach Hause kam, hatte ich die Vorhänge nicht geschlossen und war sofort ins Bett gegangen, was meinem Hangover nicht unbedingt half, da die Sonne auch früh morgens noch schien. Ich grummelte und kniff meine Augen zusammen und erinnerte mich an alles, was gestern geschehen war, bevor ich auf mein Handy sah. Eine Nachricht von Collin.

Collin: Danke für gestern :) <3

Ich seufzte und starrte auf die Nachricht. Das war nicht gut. Das war ganz und gar nicht gut. Ich schaltete mein Handy wieder aus. Ich hätte das nicht tun dürfen. Ich hätte niemals mit Collin mitgehen dürfen und schon gar nicht anfangen dürfen, zu trinken. Klar, es war schön. Ich hatte Spaß. Aber ich habe auch Dinge erfahren, die ich niemals hätte erfahren sollen. Dadurch, dass ich getrunken habe, habe ich mich viel zu sehr in das Leben einer Familie eingemischt, mit der ich normalerweise gar nichts zu tun hätte, wäre ich einfach in Frankreich geblieben. Ich weiß zu viel. Ich kann Joyce oder Collin nicht mehr so behandeln, als wäre da nichts. Wenn ich Joyce's Verletzung heute sehe, muss ich sofort daran denken, dass ihre Mutter ihr wehgetan hat. Und wenn ich Collin sehe, sehe ich nicht mehr den aufgedrehten Jungen, der wahrscheinlich einer Seifenblase hinterherrennen würde, ich würde den Jungen sehen, der zu große Angst hat, nach Hause zu gehen und darüber nachdenkt, sich das Leben zu nehmen.

Wie aufs Stichwort musste ich würgen. Aber nichts kam.

Ich musste aufhören. Ich konnte mich nicht noch weiter einmischen. Nicht, wenn ich am Ende dieses Schuljahres zurück nach Frankreich gehen werde und alle mit ihren Problemen zurücklasse, als wäre ich eine Art Geist, der sagt:

„Oh, entschuldige, dass es dir schlecht geht. Aber ich muss jetzt zurück in mein Leben, in dem ich absolut zufrieden bin."

Ab heute werde ich nichts mehr tun, was mich in die Gefahr bringt, mich in irgendjemandes Leben einzumischen. Ab heute werde ich mein Jahresziel verfolgen: Es einfach vorbeiziehen lassen.

Ich warf mir eine Aspirin ein, ignorierte das wissende Grinsen und das überfreundliche „Guten Morgen", als ich aus meinem Zimmer kam und machte mich für die Schule fertig. Auf dem Weg zur Schule lief ich am Haus der Lindwalds entlang und hatte den Impuls, zu klingeln und beide abzuholen, einfach nur, um sicherzugehen, dass alles gut war. Ich schüttelte den Instinkt ab und ging weiter, jedoch nicht, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Die Vorhänge waren geschlossen.

Selbstverständlich war meine erste Stunde Französisch mit Collin und selbstverständlich war es ein Albtraum. Ich setzte mich auf meinen Platz und holte mein Notizbuch heraus, um herumzukritzeln, wie immer. Collin kam herein und setzte sich auf seinen Platz neben Ben und begann ein Gespräch. Er sah müde aus und hatte Ringe unter den Augen, aber ansonsten war alles wie immer. Ich warf ihm einen kurzen Blick zu, bevor ich mich wieder dem Notizbuch widmete. Als ich kurze Zeit später wieder aufsah, begegnete ich seinem Blick. Er warf mir ein schüchternes Lächeln zu und hob kurz die Hand, bevor er sich umdrehte. Ich schloss kurz die Augen und sah wieder herunter. Wie gesagt, Albtraum.

Und gerade, als ich gedacht habe, dass Französisch furchtbar war, war ich auf dem Weg zu meinem Platz in der Pause und sah Joyce dort sitzen. Sie hatte den Rücken zu mir gedreht, doch ich wusste genau, dass sie es war.

„Mist.", fluchte ich, lief aber trotzdem auf sie zu. Wortlos setzte ich mich hin.

„Hey.", sagte sie und ihre Augen leuchteten erfreut auf, „Sorry, dass ich gestern nicht da war. Die Stunden fielen aus und ich bin mit einer Klassenkameradin mitgegangen."

Ein Glück war sie nicht zu Hause, dachte ich. Ich sah sie an und nickte, als Zeichen, dass ich sie verstanden habe.

„Es war Collins Idee, mit ihr mitzugehen. Schätze, er wollte mich einfach nicht im selben Haus haben.", witzelte sie und lachte auf. Ich lächelte ein wenig gepresst. So ging das ganze weiter, Joyce erzählte und erzählte und ich sagte nichts zu ihr, sondern sah nur herunter und nickte ab und zu. Und jedes mal, wenn sie irgendwelche Witze riss, die mit zu Hause oder Familie zu tun hatten, flüsterte eine Stimme in meinem Kopf: „Wir wissen beide, dass das keine Witze sind."

bruyamment//lautWo Geschichten leben. Entdecke jetzt