Wie viele Finger tut es weh?

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Als ich zu spät zu dem Mathekurs komme, schenkt mir Kyle einen fragenden Blick. Sofort entschuldige ich mich bei Mrs. Green wegen meiner Verspätung. Ohne Kommentar bittet sie mich, mich zu setzten. 

Nach dem Kurs warte ich geduldig auf Kyle, der noch seine Sachen zusammenpackt. Wortlos gehen wir gemeinsam durch die Tür auf den Schulgang. „Wieso bist du zu spät gekommen?", fragt mich mein bester Freund. Auch einen Guten Morgen, Kyle! In meinen ganzen Schuljahren bin ich noch nie zu spät zum Unterricht gekommen. Und wenn ich doch zu spät kam, dann war es ein schrecklicher Grund. Dieses Mal war es eher eine schreckliche Person. Und trotzdem will ich nicht schon wieder lügen müssen. Ich hasse es. „Max, er hat mich aufgehalten" Kyle wusste von mir und Max damals Bescheid. Jedes Mal stöhnte er genervt auf, wenn ich begann über Maximilian zu schwärmen. Doch mit meinem besten Freund kann ich nicht darüber sprechen, weswegen Max Geschichte ist. Mit der einzigen Person, mit der ich darüber reden kann, ist Jayden. Schon bald wird mir klar, dass man Freunde und Bekannte nicht in dieselbe Schublade stecken kann. Trotzdem tun es viele. Obwohl es zwei Wörter mit unterschiedlichen Bedeutungen sind. Wer benutzt heute schon das Wort „Bekannter"? Man sagt einfach „Freund", völlig unabhängig davon ob man die Person schon ewig kennt oder nur ab und zu neben ihr in einem Kurs sitzt und Hallo sagt. Zum Beispiel: Jayden sieht sich als ein Freund von mir, obwohl er eigentlich nur ein Bekannter ist. Aber so kann man ihn nicht mehr nennen, dadurch dass er so einiges über mich weiß. Kompliziert, nicht wahr?

„Und läuft da was?" „Max. Ich. Zwischen uns?" Kyle nickt eifrig mit einem Grinsen im Gesicht. „Keine zehn Pferde kriegen mich dazu mit dem zusammen zu sein", entgegne ich angewidert. „Habt ihr gestritten?" „So ungefähr....Ich muss mal für kleine Mädchen", wechsel ich das Thema und ohne Kyle noch zu zuhören, verschwinde ich im nächsten Mädchen Klo. Sperre mich in eines der Klos ein, setze mich auf den geschlossenen Deckel und lasse meine Tasche neben mich fallen. Unfassbar, dass Max Jayden für meinen Unfall verantwortlich gemacht hat. Wie kommt er nur auf sowas? Mein Unfall, war ein Unfall. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand etwas damit zu tun haben soll. Außer die Wette, von der mir Jayden erzählt hatte. Max hatte eine Wette, bei der es um mich ging. Wieso werde ich das Gefühl nicht los, dass mein Unfall etwas mit Max' Wette zu tun hat. Und wieso sollte Jayden mir was antun wollen, wenn er doch sich für mich geschlagen hat? Okay er hat mir gedroht, aber ich muss mich jetzt auf ihn verlassen können. Und wenn es schief läuft und Max recht hatte, dann soll es so sein. Und wieso stand er nur dort und... Ich erinnere mich wieder an sein ausdruckslosen Gesicht. Er stand dort einfach nur. Obwohl ich bereits so viel Hass für ihn empfinde, zerbrach beziehungsweise es zerbricht mir das Herz. Ein kleines Kribbeln läuft durch meine Arme und sie werden taub. Schon wieder fühle ich für einige Sekunden eine Lähmung. Wann die Medikamente wohl anfangen zu wirken? Schmerzen machen sich in meinem Kopf bemerkbar. Wieder zittrige Hände. Dieses Mal finde ich meine Wasserflasche in meiner unordentlichen Tasche. Währenddessen klingelt es zur Stunde. Schnell nehme ich einen Schluck von meiner Flasche und packe sie wieder weg, schließe die Tür auf und erblicke mein Individuum im Spiegel. Blass. Ich bin sehr blass. Das Makeup trägt seinen Teil nicht mehr bei. Ganz ruhig, Dove. Es ist nur wegen grade eben. Du hast wahrscheinlich zu viel nachgedacht. Ich richte meine Haare und atme paar Mal ruhig ein und aus. Du schaffst das.

Außer Puste bleibe ich vor dem jeweiligen Klassenraum stehen. Hastig marschiere ich in den Raum, in dem ich jetzt Geschichte habe. Der Lehrer ist noch nicht da, was mir das Entschuldigen erspart. „Hey" „Hi", lächle ich Jayden an und nehme Platz neben ihm. Es ist gut ihn zu sehen. Er weiß was los ist und somit kann ich mich auf ihn verlassen. „Alles in Ordnung? Du bist sehr blass" Ich hatte ihm doch gesagt, er soll diese Mitleid-Masche lassen. „Ich hab' nur ein bisschen Kopfschmerzen", sage ich genervt. „Sorry. Sag' mir aber immer Bescheid, wenn was weh tun sollte. Okay?" „Okay" „Wie viele Finger tut es weh?" Er hält seine zwei Hände vor mir und sieht mich erwartend an. Ich nehme seine linke Hand und stecke nur den Daumen zurück in seine Handfläche. Die Rechte lege ich auf seinen Tisch. „Vier?" „Vier" Er lächelt mich mit Sorgenfalten auf seiner Stirn an.

„Tut mir leid, wegen meiner Verspätung, aber unser Direktor hat mich noch aufgehalten wegen der Schülersprecherwahl" Mr. Cole kommt in das Klassenzimmer und trägt einen überfordernden Blick im Gesicht. Schülersprecherwahl. Kyle. Er muss diese Wahl gewinnen. Ich wünsche es ihm so sehr. „Heute ist der letzte Tag, dass sich wer für diesen Posten anmelden kann", Mr. Cole lässt seine Bücher auf seinem Tischen fallen, „Gibt es noch jemanden, der sich anmelden möchte?" Alle Schüler sind still oder sind gelangweilt. Wie unmotiviert sie alle sind, außer der schüchterne Streber in der letzen Reihe. Die denken wohl Schule ist das Schlimmste der Welt. Ich habe das Schlimmste der Welt. Einen Tumor. „Gut, dann beginnen wir mit dem Unterricht"

„Ich hab' mit Max gesprochen" Jayden sieht mich geschockt an, als er seinen Spind schließt. „Und welche Lüge kam dieses Mal aus seinem dreckigen Mund?" Den Gedanken hatte ich auch, als er begann dich zu beschuldigen. „Er wusste, dass du mir gedroht hast und hat gemeint, dass es etwas mit meinem Unfall zu tun hat" „Dein Unfall war auch kein Unfall", sagt er angeschlagen. Er lehnt sich an den himmelblauen Spinden an. „Wie gesagt, Max hatte eine Wette und in der ging es nicht nur darum dich ins Bett zu kriegen" Mich ins Bett kriegen? Deswegen war er wahrscheinlich andauernd so liebevoll zu mir. Also ist mein absurder Gedanke kein blödes Geschwätz meines Unterbewusstseins gewesen? „Warum glaubst du hab' ich ihn verprügelt?" „Wieso weißt du so viel?", stelle ich eine Gegenfrage. „Ich war an der Wette beteiligt, aber als ich mitbekam dass es dabei um dich geht und andere unschuldige Mädchen, war ich sofort wieder draußen. Ich hab' versucht Max davon zu überzeugen, dass das falsch ist was er da tat, aber es ging um Kohle. Viel Kohle. Er war so blind vor Geld, sodass er mir oft gedroht hat, da ich ihm immer in die Quere kam. Er drohte nicht nur mit Worten" Es geht immer um Geld, immer. Geld regiert die Welt. Jetzt verstehe ich meinen Vater. Er hatte es oft gesagt. „An diesem einem Abend....du hast nicht ihn angegriffen, sondern er dich, oder?" Sein Blick sagt mir, dass ich recht habe. Es täte aber kaum einen Unterschied, wenn Jayden Max angegriffen hätte. Max hätte es verdient. Nicht sehr menschlich von mir so zu denken, aber er hat mich fast umgebracht. „Wie gesagt, nicht nur mit Worten", lacht er. Anscheinend nimmt er das Ganze ziemlich mit Humor. Es war auch schon über ein Jahr her. Trotzdem, mir kommt es vor, als wäre es erst gestern passiert. „Was ist mit den anderen Mädchen passiert", hake ich nach. Sein schönes Lächeln verschwindet und er sieht mich traurig an. „Alle mussten dasselbe Schicksal erleiden wie du. Der einzige Unterschied: du bist wieder aufgewacht" Die Klingel macht sich wieder bemerkbar. „Wie viele Finger?" „Zwei", antworte ich schmunzelnd, da diese Sache mit den Fingern irgendwie niedlich von ihm ist. Jayden macht sich mit Kumpels auf den Weg in den nächsten Klassenraum. Wenn ich erst einmal diesen den Tumor los bin, ich glaube dann wäre ich glücklich. Irgendwie.

After One Year and 91 DaysWo Geschichten leben. Entdecke jetzt