Felix

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Die Sonne geht bereits unter. Trotzdem fragte mich Jayden ob wir zusammen zum Strand gehen wollen. Er kennt dort eine ruhige Bucht, wo man den Sonnenuntergang beobachten könnte.

Wir gehen entspannt den menschenleeren Strand entlang. Wie schweigen uns an. Es ist aber keine unangenehme Stille. Das Meereswasser rauscht und der lauwarme Wind, bereitet mir eine leichte Gänsehaut. Wir haben unsere Schuhe ausgezogen, damit wir das kalte Wasser auf unseren Zehen spüren können und wenn dann doch eine größere Welle kommen sollte, haben wir auch unsere Hosen hoch gekrempelt. Unsere Schuhe tragen wir in unseren Händen. Als ich gerade zur Sonne blicke, die über dem Meer schwimmt, kommt mir der Gedanke, dass es unvorstellbar ist, dass auf der anderen Hälfte der Erdkugel gerade der Tag beginnt. Es ist selbst unvorstellbar dieselben Sterne auf dem Nachthimmel zu sehen, wie die Menschen auf der anderen Halbkugel wenn es Nacht ist. Wie viele Mädchen wohl dasselbe Leben wie ich führen?

„Ich habe ihn Norbert genannt" Jayden sieht mich verwirrt an. „Den Tumor" „Du hast dir wirklich einen Namen ausgedacht", lächelt er und muss dabei den Kopf schütteln. Nach einem kleinen Höhlendurchgang gelangen wir an der Bucht an. Die Sonne beleuchtet mit ihren bereits orangenen Strahlen die ganze Bucht. Wir setzen uns in den warmen Sand und sehen ihr zu, wie sie von Minute zu Minute am Horizont verschwindet. 

„Hatte deine Schwester auch ihren Krebs benannt?", frage ich ihn vorsichtig, da ich weiß dass das Thema Schwester ihn ziemlich mitnimmt. „Sie hatte ihn nach ihrem Lieblingskuscheltier benannt. Die Ärzte haben sie glauben lassen, das der Krebs wie Fieber wäre: das es vorbei gehen würde. Aber sie war nicht dumm. Sie hat recherchiert, was Krebs anstellen kann", antwortet er offen. „Wie hieß ihr Lieblingskuscheltier?" „Felix. Es war so ein Elefant, dem ein Auge gefehlt hat. Wie sie ihn zu Weihnachten bekommen hat, war sie mega sauer auf Mum, weil ihm ein Auge fehlte und er ein hässliches Grau hatte und sie doch diese eine Puppe haben wollte", lächelt er glücklich, als könnte er Theresa vor sich sehen, wie sie den Elefanten aus dem Geschenkpapier auspackt und wütend wird, dass sie nicht die wunderschöne Barbie Puppe bekommen hat, die sie letztens im Spielwarengeschäft gesehen hatte. „Wieso hat sie ihn ausgerechnet Felix genannt?" „Den Krebs? Sie sagte, weil ihr Leben jetzt genauso hässlich grau wäre wie dieser Elefant" Ich rücke etwas mehr zu ihm um meinen Kopf auf seine Schulter zu legen. Wieder steigt mir sein Duft in die Nase. Ich ziehe meine Beine zu mir und Jayden legt seinen linken Arm um mein rechtes Knie, dabei lässt er seine große Hand auf mein Schienbein nieder. Es wird dunkel und bald kann man den Mond und seine Armee der Sterne neben ihm erkennen. Der Himmelskörper ist zu einer perfekten Sichel geformt. Als kleines Kind dachte ich immer, dass er angeknabbert wird. Von wem? Keine Ahnung. Aber das Zunehmen des Mondes, konnte ich mir nie erklären. Erst später fand ich heraus, dass er immer gleich groß und gleich rund bleibt, es war nur die Sonne die nicht den ganzen Mond anleuchtete. 

„Du musst es ihnen sagen" Seine müde Stimme lässt mich meine Augen schließen. „Hm? Was meinst du?" „Deine Freunde. Du musst ihnen von dem Kr-...ich meine von Norbert erzählen" Er streicht beruhigend auf meinem Bein auf und ab. „Wieso? Es wird wieder alles gut. Sie müssen nichts erfahren" Ich weiß, dass noch vieles nicht nach Plan laufen kann, aber ich weiß dass ich das schaffe, ich spüre es. Ich will nicht mit meinen Freunden diskutieren müssen. Es ist besser sie erfahren nichts und wenn Norbert überstanden ist, dann kann ich wieder unbeschwert weiter leben. Und ich werde Norbert überleben, da bin ich mir sicher. „Aber was ist wenn alles schief läuft und du hast keine Zeit mehr dich von ihnen zu verabschieden?" Geht's noch?! Es wird nichts schief laufen! Ich öffne meine Augen wieder und entferne mich von ihm. Jayden sieht mich mit großen Augen an. Ich greife nach meinen Sandalen, stehe auf und gehe müde zurück zum riesigen Strand. Gerade scheint alles in Ordnung zu sein und wieder renne ich irgendwo dagegen. Und es ist immer die harte Wand. Plötzlich legen sich von hinten starke Arme um mich und bringen mich davon ab weiter zu gehen. Der Geruch verrät mir, dass es Jayden ist. „Tut mir leid" Ich kann seinen Atem nah an meinem frei liegenden Nacken spüren. „Ich hab' nur Angst" Angst. Wer hat denn keine Angst? Meine Mutter hat Angst, das weiß ich. Mein Dad, keine Ahnung, aber er ist mein Vater und alle Väter haben doch Angst um ihre eigenen Kinder oder? Meine Freunde hätten wahrscheinlich auch Angst. Und ich... „...ich habe auch Angst" Ich lasse meine Schuhe auf den Sand fallen und nehme seine Hände, um sie mit meinen zu verschränken. Seine sind weich und warm. Ich glaube, sie sind immer warm. Meine kalten Finger beginnen zu kribbeln, da sie plötzlich von Wärme umhüllt sind. Ich kann seine Brust an meinem Rücken spüren, wie diese sich hebt und senkt. Seine Nähe tut mir gut. Ich kann es weder begründen, weshalb seine Anwesenheit mich gut fühlen lässt, noch kann ich beschreiben wie es sich anfühlt. Es können tausende von Adjektiven existieren, die dieses Gefühl beschreiben könnten, doch keines von ihnen kann es für mich.

After One Year and 91 DaysWo Geschichten leben. Entdecke jetzt