Mein Individuum, meine Persönlichkeit

101 5 6
                                    

Im Krankenhaus blieb ich bis Samstag zur Beobachtung. Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht was sie noch beobachten wollten, aber desto trotz durfte ich erst am Tag darauf nach Hause. Mein Arzt meinte, dass er noch einige Tests und Beobachtungen durch führen möchte, damit er weiß ob eine Therapie nötig oder sogar möglich ist. Zum Schluss gab er mir noch eine Bestätigung für meinen Schuldirektor, dass ich ab Montag zur Schule und in den Sportunterricht kommen darf. Am liebsten würde ich sie zerknüllen und wegschmeißen, und zu Hause unterrichtet werden. Nach so langer Zeit will ich nicht zurück in mein altes Leben, denn ich habe das Gefühl das sich alles verändert wird. Oder es hat sich schon so viel geändert. Ich wünsche mir, dass alles so wie früher wird. Leider meinte meine Mutter, dass es für meine Entwicklung besser wäre nach dieser langen Zeit wieder unter bekannte Menschen zu kommen und der beste Ort dafür ist ein soziales Umfeld namens „Schule". Mein Vater willigte beide Varianten ein, doch beides geht nicht.

Dove: Mein Namensschild hang noch immer an meiner Zimmertür. Meine Stube zu Hause sieht wie früher aus: blaue Wände und weiße Möbel, und es sah alles unberührt aus. Mein Tagebuch lag noch immer an derselben Stelle an der ich es am Abend vor meinem Unfall hingelegt hatte. Mum gab mir Bescheid, dass mein Zimmer ab und zu als Abstellkammer gedient hat und ich ihr daraufhin nicht böse sein soll. Ich nahm es ihr nicht übel. Ich war nun mal nicht da.

Es ist Montagmorgen und mein Dad beschloss mich zur Schule zu fahren. Er meint ich soll mich schonen und nicht mit dem Bus zur Schule fahren, denn ich müsste auch noch zur Bushaltestelle gehen. Noch ein Argument mehr, dass ich zu Hause unterrichtet werden sollte. Dad übertreibt es vielleicht ein wenig. Er macht sich halt Sorgen. Kann ich verstehen, aber meine Füße funktionieren noch und orientierungslos bin ich auch nicht geworden. Meine Eltern haben mich in den letzten Tagen wie ein fünfjähriges Kind behandelt.

Mein Dad fährt nicht auf den Schulparkplatz, sondern lässt mich auf der Straße gleich hinaus, da er noch zur Arbeit muss und wir etwas zu spät von Zuhause wegefahren sind. Vor mir erblicke ich das Schulgemäuer, welches einen neuen Anstrich bekommen hat. Der Parkplatz wird kaum von den Schülern benutzt. Auf dem Weg in das Schulgebäude werde ich das Gefühl nicht los, angestarrt zu werden. Als ich mich jedoch genauer umsehe, sind die meisten Schüler mit sich selbst beschäftigt. Trotzdem bekomme ich Blicke zu spüren, die ich nicht deuten kann. Vielleicht erkennen sie mich.

„Brauchst du Hilfe?", soll ich mich jetzt angesprochen fühlen? Ich sehe um mich und erkenne sofort ein bekanntes Gesicht. Ich bin mir sicher, dass es seine Stimme war. Etwas geschockt stehe ich vor ihm und mir wurde ein bisschen schlecht. Es ist schon schlimm genug für mich, dass ich überhaupt in die Schule gehen musste, aber dann auch noch die Person zu treffen, die man keineswegs begegnen will. „Dove oder?", fragt er vorsichtig nach meinem Namen und lächelt mich dabei sanft an. Was ist nur los? Vor meinem Unfall, hat er mir gedroht und mir schreckliche Angst gemacht. „Nein, nein ich brauch' keine Hilfe", antworte ich ihm nervös und mache mich auf den Weg in das Sekretariat. Jayden! Oh Gott, bitte lass es nicht Jayden gewesen sein. Früher oder später hätte ich ihm begegnen müssen.

Im Sekretariat angekommen informiert mich die Sekretärin in welchen Klassenräumen ich Unterricht habe und weitere Sachen wie Schulbücher und Stundenplan. Glücklicherweise begegne ich dem Lehrer den ich jetzt im Unterricht habe. Er ist ein neuer Lehrer, der wahrscheinlich kam als ich meine Zeit im Krankenhaus verbracht habe. Er stellt sich bei mir als Mr. Cole vor. Da erklingt die Schulklingel. Die altbekannte Klingel! Ich habe dich nicht vermisst. Während ich Mr. Cole in den Klassenraum folge, frage ich mich wie es wohl werden wird, die Zeit nach all dem.

„Ms. Edwards setzen sie sich doch neben Mr. Johnson", äußert er sich an mich gerichtet, sodass nur ich es höre. Erst jetzt bemerke ich, dass wir schon im Klassenraum sind. Ich blicke über die ganzen Schüler und sehe neue, aber auch allzu bekannte Gesichter. Natürlich musste ich mit ihnen rechnen. Inklusiv Jayden. Innerlich stöhne ich genervt auf.

Max, anders genannt Maximilian Scott. Er war meine erste große Liebe. Max war die perfekte Vorstellung eines Traummannes. Muskulös und hatte das Herz am rechten Fleck. Getäuscht.  Als ich sein Gesicht genauer analysiere, fällt es mir wieder ein. Er stand auf der anderen Straßenseite. Uninteressiert sieht er mich an, als ob er mich nicht kennen würde.

Dann ist da Sam O'Conner. Sie war beziehungsweise ist die Fame-Geile. In einem klischeehaften Roman würde man sie als Supernova bezeichnen. Ich fragte mich schon immer, was in ihrem Leben falsch gelaufen ist, dass sie so einen ekelhaften Charakter hat. Sie kann auch ganz schön bedrohlich sein. Und mit sein meine ich sein. Ganz so wie früher. Ich war ein Dorn in ihrem Auge. Weshalb genau? Keine Ahnung. Vielleicht Eifersucht. Aber nur weswegen?

Das Schmatzen des Kaugummis, welches zwischen ihren Zähnen klebt, macht provozierende Geräusche. Selbst ihre Anhänger, deren Name ich bis heute nicht kenne, haben dieses rosa Gummi in ihren Mündern.

Jackson Waller: Ich sag' nur Computerfreak. Wir hatten nie etwas miteinander zu tun. Trotzdem sah ich immer mit an, dass er hilfsbereit ist, still aber hilfsbereit.

Als letztes ist da Jayden, Jayden Christopher Johnson aka ab heute mein neuer Sitznachbar in jedem verdammten Geschichtskurs. Ziemlich kompliziert war das zwischen uns. Es war kein Liebesdrama oder sowas Ähnliches. Nein, ich hatte ungewollt Etwas mitbekommen. Etwas von dem anscheinend niemand irgendwas wusste. Außer das Opfer, wenn der noch am Leben ist.

Auf den Tischen der Schüler sind Namen, Logos, Phrasen oder einfach nur Beschimpfungen eingeritzt oder hinauf gekritzelt. Der Boden hat ziemlich viele Kratzer, durch die hochhackigen Schuhe, die momentan anscheinend so im Trend sind. Auch einige Papierflieger machen sich bemerkbar. Die Wände kahl, aber nicht unfreundlich. Am Platz neben Jayden angekommen, ruft ein Junge vor zum Lehrer: „Stellt sich die Neue nicht vor?" „Sie ist nicht neu Mr. Collin, sie war nur für eine lange Zeit nicht anwesend", antwortet er nur darauf. Wusste Mr. Cole davon? Er hatte ja eine gewisse Schweigepflicht oder?

„Wie? Hat sie einfach so frei gekriegt? Ich will auch solche Ferien", lacht er. Ferien? Dein ernst? „Mr. Collin! Wenn sie es genauer wissen wollen, dann fragen sie Ms. Edwards doch persönlich", verteidigt mich mein neuer Geschichtslehrer. „Nun gut, Herr Professor", Collin wendet sich zu mir und ich spüre, dass er mir jetzt die unangenehmste Frage stellen wird, „Wo warst du, vor allem dass du jetzt mitten im Semester zurück kommst?" Ich schlucke einmal und versuche mit einer Lüge zu antworten, denn die Wahrheit tat weh. Sie, diese Menschen hier würden es nicht verstehen. Wenn ich es ihnen schildern würde, vor allem das ich einen Tumor in meinem Kopf habe, würden sie nur meine Krankheit sehen und nicht mich, mein Individuum, meine Persönlichkeit. Das Surren einer Fliege übertönt die Stille im Klassenraum. „Sie hatte zwei Jahre Schüleraustausch in Japan", spricht plötzlich Jayden. Daraufhin sieht Collin mich und meinen neuen Sitznachbar unglaubwürdig an. „Collin, ich bitte sie, unterhalten sie sich mit Edwards nach dem Unterricht", bittet Mr. Cole den neugierigen Schüler und startet mit dem Unterricht.

„Müsstest du die letzten zwei Klassenstufen nicht nachmachen?", erschreckt mich Jayden, nachdem der Unterricht beendet war. Ich sehe ihn nur skeptisch an. „Tut mir leid..", er kommt mir etwas näher und ich mache einen Schritt zurück. „Schon klar", sagt er enttäuscht. Er schultert seine Tasche und geht. Ich habe Angst, fürchterliche Angst. Natürlich hatte sich viel verändert, aber die Tatsache, dass er mich noch immer zum Schweigen bringen will, bleibt eine Tatsache. Seine Zukunft hängt von mir ab.

Flashback

„Du wirst still sein, sonst bist du tot!", flüstert er. Seinen bedrohlichen Unterton bereitet mir Gänsehaut. Nebenbei hält er mir seinen Zeigefinger vor mein Gesicht. Adrenalin-Schub pur! Er will mich tot sehen, wenn ich spreche....

Flashback Ende

Ich schüttele meinen Kopf leicht um diese Gedanken weg zu schieben. Ich habe einen verdammten Tumor im Kopf und mein Erinnerungsvermögen ist perfekt. Wieso auch nicht, ich hätte auch nichts Besseres zu tun. 

After One Year and 91 DaysWo Geschichten leben. Entdecke jetzt