Ein Kratzen im Hals weckt mich. Wenig später öffne ich meine Augen und helles Licht blendet mir ins Gesicht, was mich zusammen zucken und somit meine Augen wieder schließen lässt. Ich gebe ein kleines Seufzen von mir und drehe mich daraufhin um, um das Sonnenlicht zu meiden. Nochmal öffne ich meine Augen langsam und kann einen schlafenden Jungen erkennen. Jayden. Sofort fällt mir der gestrige Tag ein. Jetzt kann sich nur noch alles bessern. Wieso sollte mir das Schicksal jetzt noch einen Streich spielen wollen?
Gedankenverloren sehe ich zu ihm und er schläft seelenruhig. Wenn ich ihn genauer betrachte, sieht er so unschuldig aus, wie ein kleines Kind, dem nie etwas Schlimmes widerfahren ist. Der nie etwas schlimmes getan hat. Obwohl ihm bestimmt viele schreckliche Dinge passiert sind. Ich wende mich von ihm ab und klettere leise aus dem Bett. Ein schmerzendes Pochen im Kopf versetzt mich in Schwindel. Nach ein paar Sekunden wird es besser, aber die stechenden Kopfschmerzen bleiben. Ich massiere kurz meine Schläfen, doch das bringt nicht viel.
Plötzlich bewegt sich die Decke und ich blicke ruckartig auf das Bett. Jayden hat sich nur auf den Bauch gelegt. Jetzt kann ich deutlich sehen, dass er oberkörperfrei schläft, da die Decke durch das Umdrehen hinunter gerutscht ist. Er muss sich wohl in der Nacht, das Shirt ausgezogen haben. Schnell blicke ich von diesem muskulösen Rücken weg. Nicht wieder hinschauen!
Ich stehe mit nackten Füßen auf einen kuscheligen Teppich. Nach ein paar Schritten, welche dann auf dem kalten Fußboden fortgesetzt werden, entdecke ich um die Ecke einen Balkon. Den hatte ich gestern, als ich herum geschnüffelt habe und schlafen ging, gar nicht entdeckt. Ohne zu zögern, gehe ich auf die Balkontür zu und öffne sie. Ein frischer Morgenwind kommt mir entgegen und ich atme genüsslich die nach Blüten duftende Luft ein. Dabei mache ich einen Schritt auf den gepflasterten Balkonboden. Überraschenderweise ist dieser bereits aufgewärmt von der Sonne. Ich mag dieses warme Kribbeln auf meinen Fußsohlen. Mein Kopf pocht noch immer und es will irgendwie nicht aufhören.
„Morgen", spricht jemand hinter mir verschlafen. Ich drehe mich um und sehe Jayden, der sich müde seine Augen reibt und sich zu mir gesellt. Er hatte es geschafft sich sein Shirt wieder über zuziehen. „Gut geschlafen?", fragt er mich mit einer rauen Morgenstimme und kratzt sich unter dem Shirt an seinem Bauch. „Ja du?"„Denke auch" Ich schenke der Aussicht meine Aufmerksamkeit. Viele Häuser und typisch amerikanische Straßen mit fahrenden Autos machen das Morgenbild. Dahinter triumphieren spitze Berge. Ich verliebe mich in den Ausblick. Ich will unbedingt wissen, wie dieses wunderschöne Bild wohl in der Nacht aussieht. „Alles okay?", fragt er, da er bemerkt hat, dass ich mir ständig auf meinen Kopf greife. „Ja, alles gut" „Hast du wieder Kopfweh?" Er greift sanft nach meinen Armen, womit ich gezwungen bin ihm ins Gesicht zu sehen. „Wie sehr tut es weh?" „Ich sagte doch, dass alles gut ist", antworte ich genervt. Ich will ihm keinen Schrecken einjagen. Mir geht es gut. Solange ich keine Lähmungen empfinde, wie in der ersten Woche, ist alles in Ordnung. Hoffe ich jedenfalls. „Wie viele Finger?" Er bleibt hartnäckig. „Sechs", flüstere ich kaum hörbar. „Ich hab' dich nicht gehört" „Sechs!", antworte ich widerwillig. „Man! Ich will nicht andauernd über diesen Scheiß reden! Darüber reden, was weh tut und was nicht. Und wenn was weh tut, es gleich mein Tod bedeutet, denn das stimmt so nicht" Jayden nimmt mich in den Arm. „Wie konnte Theresa keine Angst vor dem Sterben haben?" Ich versuche meine Tränen zu unterdrücken, aber sie sind nicht aufzuhalten. „Wir schaffen das", antwortet er sofort darauf. Es frisst mich innerlich auf, jeden Morgen aufzuwachen, zu wissen, dass wieder ein neuer Tag beginnt mit der Angst und dem Gewissen, dass es vielleicht der letzte Tag auf Erden ist. „Diese Angst...dieses Ungewisse, wird es nachlassen?" „Ich weiß es nicht, Dove. Ich weiß es nicht" Meine Hände liegen schlapp auf seinen Schultern und er streichelt beruhigend meinen Rücken. „Frühstücken wir etwas. Mit vollem Magen dreht sich die Welt besser" Er streicht mir die letzten Tränen weg und lächelt mich aufmunternd an.
„Willst du nicht lieber zu Dr. Anderson vorbei schauen?", fragt er mich, während ich mir ein Nutellabrot in den Mund stopfe. „Jayden ich habe nur Kopfweh, mehr nicht. Wir hatten das doch geklärt – keine Fürsorge", antworte ich ihm unbekümmert. „Dove, ich mach' mir trotzdem Sorgen" Ich verdrehe meine Augen, da diese Fürsorglichkeit total unnötig ist. Genau das habe ich von Anfang an gemeint: diese Fürsorge die einem absolut nichts bringt. Ich rutsche genervt am Stuhl in der Küche hin und her. „Okay, ich mach' einen Vorschlag", ich blicke ihn böse an, „Wenn es schlimmer wird, dann gehen wir ins Krankenhaus. Wenn es besser wird, nicht" Ich halte nicht viel von Vorschlägen, aber ich will nicht mit Jayden groß diskutieren müssen. Deswegen nehme ich den Kompromiss an. „Und wenn es schlimmer wird, lüg' mich nicht an", er fuchtelt mit einem Messer in der Hand herum, da er gerade frische Erdbeeren schneidet, um sie dann mit Staubzucker zu essen. Wie gut, dass ich am anderen Ende des Küchentisches sitze, sonst würde das Messer noch in eines meiner Augen landen. Plötzlich klingelt sein Handy, welches im Wohnzimmer liegt. Die Küche und das Wohnzimmer sind verbunden, somit muss er nicht weit gehen. Jayden macht mir klar, dass ich einen Moment warten soll. Er verschwindet mit einem Hi, Mum im Vorzimmer. Da ich gestern mein paranoides Denken abgelegt habe, mache ich mir wenig Sorgen um den Anruf.
Ich blicke auf mein Handy, das vor mir liegt. Der Bildschirm erleuchtet und ich sehe eine Nachricht: Ich weiss das die beiden jungs grad nicht gut zu sprechen sind, aber du lässt uns im ungewissen. Was läuft da mit johnson? Können wir reden? Hab dich lieb, Sophia <3
Vielleicht hat Jayden recht und ich sollte beginnen mit ihnen über das Ganze zu sprechen. Ihnen von Norbert erzählen. Was ist wenn es plötzlich passiert und sie haben keine Chance mehr mit mir zu reden. Wahrscheinlich muss Jayden es ihnen schonend beibringen. Das will ich ihm nicht antun müssen. Wie habe ich das früher eigentlich angestellt, wenn ich meinen Freunden etwas verheimlicht habe? Bei unserer Freundschaft gab es nie etwas zu verheimlichen und man kann keine Teenager-Geheimnisse mit sowas vergleichen.
„Girl, meine Eltern kommen ungeplant frühzeitig von ihrer Reise zurück. Willst du mit uns Mittagessen? Denn dann könnte ich dich gleich ihnen vorstellen" Ich drehe mein Handy wieder aus und lege es weg. „Als wen willst du mich denn vorstellen?", frage ich neugierig, da ich nicht genau weiß für wen ich Jayden bin. Eine Freundin? Seine Freundin? Eine Schulkollegin? Oder doch als das Mädchen, dass in einen Kriminalfall verstrickt ist, von einem Koma erwacht ist und erfährt, dass sie Norbe- ich meine, eine Tumor im Kopf hat? „Keine Ahnung" Ich sehe ihn skeptisch an. Vielleicht will er mich sogar als eine von vielen Mädchen die hier übernachtet haben, vorstellen. „Ich bin einfach eine Freundin von dir", schlage ich vor. „Aber es ist doch eigentlich mehr oder habe ich mir das was gestern war nur eingebildet..." „Wahrscheinlich hast du dir das eingebildet" Natürlich hat er sich nichts eingebildet. Dieses Knistern zwischen uns, konnte sich doch keiner einbilden, so wie das am Brennen war. Ich breche den Blickkontakt ab und beginne mein nächstes Brot zu schmieren, als plötzlich Jaydens Gesicht ganz nah neben meinem ist. Eine Gänsehaut überkommt mich. „Du hast recht. Ich hab's mir bestimmt eingebildet", sagt er, als er meine Haare aufstehen sieht. Ich drehe meinen Kopf zu ihm und zwischen unseren Lippen sind nur mehr wenige Zentimeter. Sein rechter Arm stützt sich am Tisch vor mir ab. Wieder starrt er auf meine Lippen und blickt ab und zu in meine Augen. Will er wieder versuchen mich zu küssen? Wieso macht er es denn so spannend? Vielleicht ist er unsicher. Jetzt sehe ich auch auf seine Lippen und sie sind schmal, aber trotzdem sehen sie durch das blasse Rot voll aus. „Wenn du jetzt noch was dagegen hast, dass ich dich küssen werde, dann unterbrech' mich jetzt, denn danach kannst du mich nicht mehr davon abhalten", warnt er mich. Ich werde dich nicht aufhalten. Als hätte er meine Gedanken lesen können, kommt er immer näher und mein Herz schlägt immer schneller. Oh Gott, ich hab' doch über keine Ahnung wie man küsst. Jayden ist nun schon so nah an meinen Lippen, dass ich aus Reflex meine Augen schließe. So haben das die verliebten Paare auch in den Filmen gemacht, die Augen geschlossen. Aber bin ich denn in ihn verliebt? Bald kann ich seine Lippen auf meinen spüren und ich erwidere, obwohl ich nicht einmal weiß wie das geht. Seine rechte Hand hat Platz auf meiner Hüfte gefunden und er stupst mich an, dass ich vom Stuhl aufstehen soll. Wir beginnen weitere Küsse auszutauschen, während ich aufstehe. Meine Hände haben sich in seinen Nacken verkrochen, seine ruhen auf meiner Hüfte. Er lässt von mir ab und sieht mich mit einem verträumten Grinsen an. „Du wirst mich nicht mehr los", flüstert er. Oh Gott, was hab ich nur getan!
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After One Year and 91 Days
Mystery / ThrillerDove Kathleen Edwards wacht nach einem Jahr und einundneunzig Tagen von einem künstlichen Koma auf. Ihr Arzt, Dr. Anderson bringt ihr schonend bei, dass sie einen Tumor hat, der ihr gefährlich werden könnte. Dove versucht wieder in ihren üblichen Al...