S e c h s

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Ich spürte, wie es im Zimmer merklich kühler wurde und rieb mir fröstelnd über die Arme. Tante Lyra begann, mit geschlossenen Augen irgendwelche Wörter vor sich hin zu murmeln. Es klang wie eine andere, fremde Sprache und ich lauschte gebannt. Etwas an ihren Worten kam mir merkwürdig vertraut vor, es hatte so einen seltsamen Klang, der mich an etwas erinnerte. Woran genau, konnte ich jedoch nicht sagen.

Ihre Stimme hatte etwas raues und beruhigendes bekommen und fast kam es mir so vor, als würde sie die Worte singen, und nicht sprechen.

Benjamin hatte seine Augen geöffnet und starrte mit glasigen Augen an die Decke. Seine Finger verkrampften sich wieder und er atmete schwer. Die Wunde an seinem Bein begann, sich langsam wieder zu schließen und wie von Zauberhand zu verheilen. Sprachlos beobachtete ich das Geschehen und in diesem Moment begriff ich, dass das, was da gerade vor mir geschah, Hexerei war.

Die Kerzen im Raum begannen zu flackern und fast alle gingen aus, bis auf eine Kerze, die direkt am Bett des Jungen stand, sodass der ganze Raum in ein mysteriöses Licht getaucht wurde und nur Tante Lyras Gesicht beleuchtet wurde.

All das dauerte nur ein paar Minuten. Ich war mir nicht sicher, ob ich mir all das vielleicht nicht auch nur eingebildet hatte, aber das Bein des Jungen sagte mir etwas anderes. Von der Wunde war nichts mehr zu sehen, nicht mal der kleinste Kratzer war zurückgeblieben. ,,Wie hast du das gemacht?"

Ein keuchen ließ uns herumfahren. In der Tür stand Beatrice, das Mädchen, das uns hierher geführt hatte. Sie hielt sich die Hand vor den Mund und starrte mich aus vor Angst weit aufgerissenen Augen an. Dann drehte sie sich um und rannte hinaus auf den Flur. ,,Beatrice!", ich stürzte zur Tür und sah ihr schockiert hinterher. Was mochte sie bloß denken? Ich biss mir auf die Lippen.

Benjamins Mutter kam die Treppen hochgelaufen, in einer Hand auf einem Tablett die feuchten Tücher. Sie stürzte ins Zimmer an das Bett. Fassungslos starrte sie auf ihr Kind und das Bein, von dem nun keine Spur einer Verletzung zu sehen war. ,,Oh, Gott sei Dank!", rief sie erleichtert aus, dann ließ sie sich auf die Bettkante nieder und zog Benjamin in ihre Arme. Der Junge brummte etwas unverständliches und schloss seine Augen. Anscheinend war er zu müde, um irgendetwas zu sagen.

,,Wie geht es ihm?" Benjamins Vater war im Türrahmen erschienen und sah uns misstrauisch an. Wahrscheinlich erwartete er das schlimmste. ,,Jonathan, er... Es geht ihm gut!" Sie sah ihren Mann erleichtert an und hatte Freudentränen in den Augen.

Er hastete an das Bett und suchte mit seinen Augen den Körper des Kindes ab, doch von der vorherigen Wunde war nichts mehr zu entdecken. ,,Wie...?", entgeistert starrte er weiterhin auf den schmächtigen Körper vor ihm. ,,Das ist doch jetzt egal!", rief die Frau ihm aufgebracht zu. ,,Hauptsache, Benjamin geht es gut.", zärtlich strich sie ihrem Sohn über die Stirn.

,,Vielen Dank. Was auch immer Ihr getan habt, vielen Dank!", sie beugte sich wieder über ihr Kind. Tante Lyra erwiderte nichts, sondern griff hastig nach ihrer Tasche und packte mich am Arm. ,,Wir müssen hier weg." Zusammen hasteten wir aus dem Zimmer, die Treppe hinunter und aus dem Haus raus. Den ganzen Weg zurück schwiegen wir, und nur unsere Schritte auf dem eisigen Boden waren zu hören.

Zuhause angekommen, stürmte sie in ihr Zimmer und fing an, verschiedene Sachen zusammenzusuchen. ,,Was ist los?", entgeistert sah ich sie an. ,,Pack deine Sachen zusammen. Wir müssen hier weg. Sie sind bestimmt schon auf dem Weg."

,,Wer ist sie?" Ich verstand die Welt nicht mehr. ,,Und überhaupt: Hast du mir nicht was zu sagen?", auffordernd sah ich sie an. Tante Lyra blieb für einen Moment wie erstarrt stehen, dann begann sie, weitere Sachen einzupacken. Ein tuch, ein Messer und einige Dosen wanderten in ihre tasche. ,,Nicht jetzt, Samara. Wir müssen uns wirklich beeilen." Wütend funkelte ich sie an. ,,Nein, du sagst mir jetzt sofort, was hier gespielt wird. Du bist eine Hexe?!", entgeistert blickte ich sie an. Wieso hatte ich davon all die Jahre nichts mitbekommen? Wie konnte mir so etwas nur entgehen. Erst jetzt realisierte ich, was das alles eigentlich bedeutete. Hexen waren mächtig, sie nutzten ihre Kräfte, um das Böse zu rufen und Leid und Unheil zu verbereiten. ,,Samara, es ist nicht so, wie du denkst.", versuchte Tante Lyra mich zu beruhigen und griff nach meinem Arm. ,,Ich bin nicht böse. Immerhin habe ich auch dem Jungen geholfen. Ohne mich würde er sein Bein nie wieder benutzen können!" , aufgewühlt sah sie mich an. Zweifelnd sah ich sie an. ich wusste nicht mehr, was ich glauben sollte.

Plötzlich hörte ich das laute Bellen eines Hundes und das Geräusch einiger Pferde aus der Ferne.

,,Oh nein." Tante Lyras gesamter Körper verkrampfte sich und zum ersten Mal sah ich so etwas wie Angst in ihren Augen aufblitzen. ,,Du musst hier weg." Panisch sah sie sich um. ,,Was?", verdutzt sah ich sie an. ,,Verschwinde von hier." Sie packte mich am Arm und schob mich zur Tür. ,,Über den Garten kannst du abhauen. Im Wald finden sie dich nicht so schnell." Tante Lyra zog mich an sich und umarmte mich. Sie vergrub ihr Gesicht in meinen Haaren. ,,Jetzt geh, bevor sie dich kriegen. Ich halte sie auf." Mit sanfter Gewalt schob sie mich hinaus. Eine Träne lief ihr die Wange hinunter, dann schloss sie die Tür. ,,Tante Lyra?", verzweifelt versuchte ich, die Tür zu öffnen, doch sie war von innen versiegelt, sodass ich nicht mehr ins Haus kam.

Noch einmal hörte ich das Bellen des Hundes, es war inzwischen deutlich näher. Erschrocken sah ich mich um. Was passierte hier gerade? Die kalten klauen der Angst packten mich und ließen mich nicht mehr los. Ich stolperte einige Schritte zurück und sah ängstlich durch das erleuchtete Fenster in die Küche, in der Tante Lyra stand. Sie sah mich liebevoll an und flüsterte mir nur ein Wort zu: ,,Lauf." Und genau das tat ich. Ich drehte mich um und begann zu rennen.

Kurz vor dem Waldrand hörte ich das laute knacken einer Tür, gefolgt von einem spitzen Schrei und dem Gebrüll einiger Männer. Verängstigt drehte ich mich um und begann wieder zu rennen.


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Etwas verspätet, aber hier kommt das nächste Kapitel.






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