Der Vorhang fällt

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Vor der Halle drängen sich schon einige Menschen, wovon wohl alle in die vorderen Reihen wollen. Größtenteils sehe ich junge Frauen ungefähr in unserem alter. Manche sind allerdings auch deutlich jünger und es sind auch ein paar Herren der Schöpfung dabei. Bei dem Gedanken, wie sie Lukas jubelnd aus der ersten Reihe Handküsse zuwerfen, muss ich lachen. Als ich aus meinen Gedanken wieder aufwache, sind Mali und Navi schon ziemkich weit vorne und ich muss mich anstrengen, ihnen hinterher zu kommen. "Ich glaube wir hätten ein Seil mitnehmen sollen, wo wir uns alle festhalten, damit keiner verloren geht", scherze ich und bemühe mich, keinen um mich herum anzurempeln. Die anderen Beiden sind so mit sich beschäftigt, dass sie mich gar nicht bemerken. Wenn ich plötzlich von dem Menschenmassen verschluckt und platt getrampelt werden würde, würden sie es wahrscheinlich erst bemerken, wenn sie jemand zum Bier holen brauchen. "Ach ja, eure Karten", werde ich freundlicherweise wieder in ihr Gespräch mit einbezogen. Malina zieht geschickt drei Eintrittskarten aus ihrer Umhängetasche und reicht jedem eine. "Sag mal Rory, was hast du eigentlich an? Willst du auf ne Beerdigung gehen?", fragt sie rethorisch und mustert mein von den Socken bis zum Hemd schwarzes Outfit. "Ne. Ich hoffe mich so im Dunkeln unsichtbar machen zu können", kontere ich ihren blöden Spruch und rolle genervt mit den Augen. Zum Glück sind wir gleich dran, sodass sie nicht weiter darauf eingehen kann. "Also ich finde, du siehst schick aus", raunt Navi mir aufmunternd zu. Mit einem müden 'Danke' schiebe ich sie vor mich in die Schlange und halte schon mal meine Tasche zur Kontrolle bereit.

Drin stellt sich uns dann die Frage: Wohin als nächstes. "Also ich will auf jeden Fall ein T-Shirt", schwärmt Malina als sie den Verkaufsstand sieht. "Wir gehen uns solang ein Bier holen", ziehe ich Navi und mich aus der Affäre. "Bringt mir eins mit!" "Geht klar", sage ich und ziehe schnell Navina in Richtung Bierstand.
Als wir an der Reihe sind, gebe ich unsere Bestellung auf. Der Barkeeper fordert mich dazu auf, meinen Ausweis zu zeigen. Hecktisch krame ich ihn aus meinem Geldbeutel hervor und überreiche ihn dem Typ mit Vollbart. Dankend nickt er und gibt ihn mir zurück. Als wir unsere Becher zurück zum Eingang balancieren, meine ich zu meiner besten Freundin: "Seh ich wirklich aus wie 15?" Immerhin werde ich bald 20. "Ach was. Die fragen nur, weil heutzutage viele 14 Jährige schon wie 19 aussehen", antwortet sie mir mit einer abwinkenden Handbewegung.
Auf Zehenspitzen stehend halten wir nach Malina Ausschau, als mir plötzlich von hinten die Augen zugehalten werden. Vor Schreck lasse ich beinahe die beiden Becher aus der Hand fallen. Unsicher drehe ich mich um, nicht wissend, wer mich erwartet... Malina. "Erschreck mich doch nicht so", motze ich, den Schreck immer noch deutlich in meinen weichen Knien spürend. Beleidigt drücke ich ihr das Bier in die Hand und mustere zum ersten mal ihre neue Errungenschaft, welche sie gleich über ihr vorheriges T-Shirt gestreift hat. Auf ihrer Brust prankt ein großes geschwungenes A mit samt dem Logo der Tour. "Hübsch", bemerkt Navi und deutet auf das T-Shirt. Man kann Mali ihre Zufriedenheit förmlich ansehen. "Dann können wir uns ja jetzt auf in die Halle machen", sage ich optimistisch. Dieser Optimismus schlägt jedoch schell in Ernüchterung um, als wir die riesige Halle betreten, welche schon mit zig Leuten gefüllt ist. "Kommt einfach mir nach", bedeutet Malina uns ihr zu folgen. Gekonnt schlängelt sie sich an den Menschen vorbei, in Richtung Bühne. Navina und ich haben Mühe mit ihrem Tempo Schritt zu halten. Zum Stehen kommt sie erst, als wir circa die fünfte Reihe erreicht haben. 'Zum Glück nicht ganz vorne', denke ich erleichtert, stelle mich neben meine zwei Freundinnen und nippe zufrieden an meinem Bier. Ich hätte wenig Lust gehabt, zwischen der Bande und den pogenden Fans zerquetscht zu werden.

"Es geht los", quietscht Malina begeistert, nachdem wir uns schon seit Ewigkeiten die Beine in den Bauch gestanden haben. Und tatsächlich tut sich endlich was auf der Bühne. Aber es ist nicht Lukas, wie ich erwartet hatte, sondern ein junger Mann, der die Menschenmasse fröhlich begrüßt. Die Vorband hatte ich ja ganz vergessen. Mittlerweile ist es ganz schön eng in der Halle geworden und ich muss aufpassen nicht ausversehen irgendjemanden mein Bier in die Schuhe zu kippen.
Eine gute halbe Stunde später ist es dann soweit: Alligatoah kommt auf die Bühne und beginnt sein erstes Lied zu performen. Aus irgendeinem Grund kommt sofort meine Nervosität wieder auf. Allerdings habe ich nicht wirklich Zeit, mir ernsthafte Gedanken zu machen. Die Stimmung ist euphorisch und die Leute um uns herum tanzen und singen aus voller Seele mit. So auch Mali. Ich fühle mich ehrlich gesagt etwas verloren zwischen den ganzen eingeschworenen Fans, da ich nicht einmal den Refrain sicher mitsingen kann. Nachdem der erste Song ausklingt, widmet Lukas zum ersten Mal die Worte an sein Publikum: "Guten Abend, Berlin!"

Das Leben ist gnadenlos und unfairWo Geschichten leben. Entdecke jetzt