Du hältst mich, ich halte dich

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"Was..?", ist das einzige, was ich herausbekomme. "Schon gut. Ich  hab' dich", beruhigt mich eine Männerstimme. "Setzt dich lieber kurz",  fährt mein mysteriöser Retter fort und führt mich zu einem der Stühle,  die im Flur an der Wand stehen.

Bedeppert und wackelig wie ein junges Reh, sinke ich in den Stuhl und schaue Mister X zum ersten Mal ins Gesicht. Zum zweiten Mal, wie ich nach einem kurzen Moment der Verwirrung feststellen muss. Es ist der selbe verdammte Typ, dessen Blick ich schon den ganzen Tag versuche, aus dem Weg zu gehen. "Ähm... Danke", sage ich, soweit mir das mit meinem betäubten Mund möglich ist. Ich muss echt beschissen aussehen. "Keine Ursache. Du sahst nicht gut aus, wie du da so allein vor dich hin gestolpert bist, da dachte ich, ich schaue lieber nach dir", erklärt er sein plötzliches Auftauchen. "Das ist aber nett von ihnen", nuschle ich dank der vorhergehenden OP. "Nicht so förmlich. Ich bin Lukas", bietet mir Mister X das Du an. "Aurora. Aber viele nennen mich einfach Rory", teile ich ihm ebenfalls meinen Namen mit.

Er sieht echt verdammt gut aus, muss ich zugeben. Groß gewachsen, dunkelblondes Haar, nicht gerade eine herkulische Statur, aber muskulöse Männer finde ich ohnehin nicht attraktiv. Mit einem musternden Blick in seine Augen, verliere ich mich kurzzeitig in ihrem Blaugrün. Sein Gesicht ist von einem Bart geziert, welcher es schmal, aber dennoch männlich und erwachsen wirken lässt. "Einen außergewöhnlichen Namen hast du da. Wirkt okkult. Und schön ist er obendrein", reißt mich mein Gegenüber aus meinen Gedanken.

'Gewählte Formulierungen benutz er da' denke ich und antworte grinsend: "Vielen Dank. Das einzig lästige an einem seltenen Namen ist nur, dass man ständig nach der Schreibweise gefragt und mit den tollsten Variationen des Namens angesprochen wird, da es anscheinend sehr schwierig ist, ihn sich zu merken." "Extraordinäre Namen sind meiner Meinung nach  einprägsamer, als Allerweltsnamen. Aber wolltest du nicht ursprünglich  auf Toilette?", werde ich von ihm an mein Vorhaben erinnert. Da es aber  sowieso nur dem Zweck dienen sollte, genau dieser Person, die vor mir steht, aus dem Weg zu gehen, macht diese Option nicht mehr so viel Sinn.  Dennoch bestätige ich seine Aussage, indem ich mich langsam von meiner Sitzgelegenheit aufraffe und in Richtung Toilettentüren gehe. Kurz bevor ich dahinter verschwinde, zupft mich dieser Lukas noch einmal am Ärmel. "Ich warte hier auf dich. Nicht dass du nochmal beinahe umkippst." Dankbar nicke ich ihm zu und schiebe mich durch den Türspalt.

Vor den Waschbecken mache ich Halt und schaue prüfend in die großen  Spiegel. Was ich sehe ist nicht wirklich ein schöner Anblick. Meine Haare stehen leicht verwuschelt von Kopf ab, ich wirke noch blasser als sonst und mein Gesicht beginnt schon langsam eine rundliche Form anzunehmen. Wenn ich ausnahmsweise mal jemanden kennenlerne, muss das dann unbedingt im unpassendsten Momenten sein? Bei meinem außerordentlichen Glück hätte ich auch gar nichts anderes erwartet.

Wenige Minuten später habe ich den Griff der Tür wieder in der Hand.  Will ich da wirklich rausgehen? In der Verfassung, in der ich grade bin? Was anderes bleibt mir wohl kaum übrig. Tapfer drücke ich die Klinke nach unten und verlasse die Örtlichkeiten mit leichtem Unbehagen. Tatsächlich wartet Lukas dort auf mich. Als er mich sieht, springt er vom Stuhl auf, auf dem ich mich vorhin wieder gefangen habe und kommt freundlich grinsend auf mich zu. Bei mir angekommen nimmt er mich beim Arm und wir gehen gemeinsam zurück Richtung Wartezimmer.

Auf dem Weg dorthin begegnen wir der Arzthelferin, die ihren Weg unterbricht, als sie uns sieht. "Da sind sie ja, Frau Schilling. Sie können jetzt zum röntgen kommen", fordert sie mich freundlich auf, ihr nachzugehen. Mein Blick fällt auf Lukas, der mir aufmunternd zunickt und mich in die Hände der brünetten Frau übergibt. Im Weggehen drehe ich mich noch einmal nach Lukas um. Er steht an einen Türrahmen gelehnt und schaut uns nach.  Als sich unsere Blicke treffen, winkt er mir kurz zu, bis ich um eine Ecke biegen muss.

Völlig fertig und müde verlasse ich ein letztes Mal das Röntgenzimmer und biege in den Flur ab, um meine Jacke von der Garderobe zu holen. Im Vorübergehen am Wartezimmer, werfe ich einen Blick hinein, um nach Lukas Ausschau zu halten. Er ist nirgends zu sehen. Ob er gegangen ist? Oder musste er selbst in eines der Behandlungszimmer? Und was soll ich jetzt tun? Ich würde ihn gern wiedersehen. So blöd das klingen mag. Seine Person hat es mir wirklich ein bisschen angetan, auch wenn ich mir das nur schwer eingestehen möchte. Doch hier auf ihn warten ist keine Option. Wer weiß, ob er nicht doch schon gegangen ist. Und wenn nicht, würde das peinlich werden, ihm erklären zu müssen, warum ich noch hier bin. Schweren Herzens streife ich mir meine Jacke über und verlasse mit einem "Auf Wiedersehen" die Praxis.

Das Leben ist gnadenlos und unfairWo Geschichten leben. Entdecke jetzt