Autogrammstunde

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Vorsichtig öffne ich den Backofen. Ein heißer Luftstoß kommt mir entgegen. Mit einem Schaschlikspieß pikse ich in den weichen Teig des Kuchens. Beim Herausziehen bleibt kein Teig am Spieß hängen. Ein gutes Zeichen, welches dafür spricht, dass der Kuchen bereit zum Herausnehmen ist.

Schnell ziehe ich den großen, blau- weiß gepunkteten Ofenhandschuh über und nehme vorsichtshalber noch einen Topflappen in die Hand. Vor Hitze hatte ich schon immer einen enormen Respekt, was mir das Bügeln nicht gerade erleichtert.
Mit doppelter Stoffschicht bewaffnet, wage ich mich an die Kuchenform und platziere sie auf einer der kalten Herdplatten. Hier kann sie ungestört abkühlen. "Navi? Kannst du die Schokoladenglasur auftragen?", rufe ich ins Wohnzimmer, in dem Navi notdürftig ihren Couchtisch aufgestellt hat. Wir müssen wirklich in naher Zukunft ein Möbelhaus aufsuchen.
"Ja, ich komme", wird mir zurückgerufen und eine gut gelaunte Navina biegt um die Ecke zu mir in die Küche. "So, wo ist sie?", fragt sie, die Hände in die Hüften gestemmt.
"Da in dem Topf", deute ich in Richtung Herd. Navi nimmt die kleine Plastikdose aus dem heißen Wasser und wendet sich dem Kuchen zu.

Mit den Worten: "Du schaffst das ja alleine. Bist ja schon groß", verlasse ich die Küche und sehe mir den Ersatztisch, der mitten im Wohnzimmer eher als eine Erhöhung des Fußbodens wahrzunehmen ist, genauer an. Navina hat ringsherum Kissen auf dem Boden verteilt.
Dann halten wir unser Kaffeekränzchen heute in japanischem Stil. Auch nicht schlecht.

Die Uhr über der Musikanlage verrät mir, dass meine Familie jeden Augenblick hier ankommen kann. Schnell flitze ich in mein Zimmer, um nochmal mein Aussehen zu prüfen und meine Bettdecke gerade zu ziehen, damit mein Zimmer augenscheinlich ein perfekt aufgeräumtes Bild abgibt.
Als ich den Blick nochmal quer durch den Raum schweifen gelassen habe und zufrieden mit dem Anblick bin, sehe ich  nach, wie weit Navi in der Küche ist. Sie summt leise und hantiert vor sich hin.
Neugierig schaue ich ihr über die Schulter. Erschrocken zuckt sie zusammen und lässt beinahe die Kuchenplatte fallen. "Ey Rory, schleich dich doch nicht so an mich ran", beschwert sie sich mit zusammen gezogenen Augenbrauen. Doch kurz darauf lockert sich ihr Gesichtsausdruck wieder in ein fröhliches Lächeln.

"Ich hab den Kuchen fertig angestrichen. Wie findest du ihn?", fragt sie mit stolz geschwellter Brust. "Er ist traumhaft", lobe ich mit einem Schulterklopfer, "Jetzt müssen wir nur noch auf die Anderen warten."

Sollten sie nicht langsam da sein? Es ist schon Dreiviertel Zwei.
Wie auf Kommando ertönt die Türklingel. Dieses Mal öffne ich zuerst die Wohnungstür und frage erst als niemand davor steht durch die Sprechanlage: "Hallöchen?" "Hey Rory, wir sind's", ruft mir mein kleiner Bruder entgegen. Daraufhin drücke ich den Türöffner und man hört die wirren Stimmen meiner Familienmitglieder von draußen hereinkommen.

Gespannt warte ich oben an der Tür, bis sie die letzte Treppe empor kommen. "Aurora", ruft meine große Schwester und drückt mich sofort zur Begrüßung an sich. Es folgen mein großer und meine zwei kleinen Brüder.

Nachdem ich alle herein gebeten habe, erklärt mir mein großer Bruder die kleine Verspätung: "Merlin hat vorm Haus einen seiner Musiker getroffen." "Ich hab sogar ein Foto und ein Autogramm bekommen", freut er sich und grinst siegessicher. "Aha. Und wo ist Mama?", frage ich unbeeindruckt von Merlins Angeberei. "Die kommt leider erst 'n bisschen später. Sie muss noch zum Rathaus irgendein Dokument abgeben", wird mir meine Frage von meiner Schwester beantwortet.
"Okay. Dann zeig ich euch solang die Wohnung. Mom kennt sie ohnehin schon vom Umzug. Also... Hier rechts sehen sie die Tür zum Badezimmer. Wollen sie einen Blick hineinwerfen?", beginne ich die Führung in der Tonlage eines Stadtguides.

Während die anderen das Bad von innen inspizieren, kommt Merlin auf mich zu und fragt: "Kann ich meine Tasche hier im Flur liegen lassen?" "Klar. Warte ich nehm' sie dir ab", antworte ich und ziehe ihm vorsichtig die Umhängetasche von der Schulter. Ordnungsgemäß hänge ich sie an einen der Jackenhaken. Bevor ich mich umdrehe, fällt mir ein Schriftzug ins Auge:

Alligatoah.

'Hm. Das muss wohl die Unterschrift sein, die er vorhin ergattert hat.'
Langsam wende ich mich wieder vom Kleiderhaken ab.
'Halt... Alligatoah! Hat nicht Mali ihn letztens hier aus dem Haus gehen sehen?', schießt es mir durch den Kopf.
"Merlin? Kannst du mir das Bild, das du mit dem Rapper gemacht hast, zeigen?", frage ich ihn mit einer leichten Vorahnung.
"Ja, warte. Das war mega cool, dass ich ihn getroffen hab. Er ist echt nett", freut er sich, dass ich mich dafür interessiere. Währenddessen tippt er auf seinem Handy herum. "Woher weißt du eigentlich, dass er Rapper ist?", fragt er mit hochgezogenen Augenbrauen. "War nur gut geraten", antworte ich.
Schließlich streckt Merlin mir sein viel zu helles Handydisplay entgegen. Das, was darauf zu sehen ist, schnürt mir kurz die Luft ab.

Ein freundlich in die Kamera grinsender LUKAS! Ohne Zweifel. Das Bild zeigt unseren Nachbarn mit verwuschelten Haaren und den Arm um Merlin gelegt.

"Das ist nicht wahr", gebe ich ungläubig von mir und nehme Merlin sein Mobiltelefon aus der Hand. "Was ist nicht wahr?", fragt dieser nur verwirrt. Ohne auf die Frage einzugehen gehe ich wie in Trance ins Wohnzimmer, in dem Navi auf einem der Kissen am Tisch sitzt und halte ihr das Elektrogerät, welches das Foto zeigt, unter die Nase.

"Was ist das? Rory, drück mir das doch nicht so ins Gesicht. Ich seh ja nix", beschwert sie sich und nimmt es mir ab, nur um die Entfernung zum Display zu vergrößern.
"Dein Bruder hat ein Selfie mit Lukas? Warum das?", verkennt sie den Ernst der Lage. "Das ist Alligatoah", gebe ich ihr zu verstehen. "Was? Unser Nachbar ist das Reptil, welches das Drogenlied singt?", fragt sie mit großen Augen. "Ja", antworte ich trocken.
"Dann hast du dir also auch noch n Musiker geangelt", sagt sie begeistert.

Von der neugewonnen Information muss ich mich erst mal setzen. Die Gedanken schießen mir nur so durch den Kopf, dass es mir nicht möglich ist, Navinas dumme Bemerkung zu kontern. Mittlerweile stehen meine Geschwister hinter uns und schauen fragend zwischen Navi und mir hin und her.

Lukas ist ein Musiker! Das erklärt das Musikgeschäft in seiner Wohnung. Und hat er nicht gesagt, er hat Mali vorm Haus gesehen? Wie konnte ich die so offensichtlichen Zusammenhänge nicht erkennen? Verdammter Mist.

Das Leben ist gnadenlos und unfairWo Geschichten leben. Entdecke jetzt