ATTNTAAT

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-Vier Wochen später-

Aufgeregt werfe ich meine Klamotten in die überall verteilt stehenden Kartons. Ich kann immer noch nicht glauben, dass es geklappt hat. Wir haben die Wohnung doch wirklich bekommen! Nun folgen Tage voller Stress und Papierkram. Doch die Vorfreude auf die elterliche Unabhängigkeit überwiegt deutlich. Meinen zwei gezogenen Weisheitszähnen geht es hervorragend. Beziehungsweise meinem Mund, aus dem sie brutal herausgerissen wurden. Von der OP ist nichts mehr zu spüren und zu sehen.

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"Aurora, bist du fertig? Wir wollen los!", werde ich von Navi gerufen. "Bin sofort da!", antworte ich den letzten Karton nach unten schleppend. Bis auf diesen einen sind alle Sachen schon sicher im Transporter verstaut. Fröhlich pfeifend steige ich zu den anderen ins Auto, nachdem ich die Box eingeräumt und den Kofferraum zugeschmissen habe.

"Alles bereit zur Abfahrt?", werde ich von meiner Mutter gefragt, die sich bereiterklärt hat, uns heute mit meinen Sachen zu helfen. Navinas Zeug wurde schon gestern in unsere neue Wohnung geliefert. "Jap", sage ich und schalte das Autoradio ein. Um nicht die Charts rauf und runter hören zu müssen, verbinde ich mein Handy über ein Aux-Kabel mit der Anlage. Währenddessen ist meine Mutter schon angefahren und biegt zielsicher um die viel befahrenen Straßenecken Berlins. Es ist ein warmer, sonniger Sommertag. So kurble ich, froh über ein bisschen Fahrtwind, das Beifahrerfenster hinunter.

Genießerisch schließe ich meine Augen und werde mir meiner Lage bewusst. Wir sind unterwegs zum größten Schritt in Richtung erwachsen sein. Und damit meine ich nicht, dass die folgenden Tage eine Hausparty an die Nächste sein werden. Navina und ich haben uns vorgenommen, das Projekt "eigene Wohnung" verantwortungsbewusst und mit Bedacht anzugehen. Partys sind eh nicht so unser Ding.

Langsam kommt unser dunkelblauer VW vor einem mehrstöckigen Gebäude zum Stehen. Wir sind angekommen. In unserem neuen Zuhause. Voller Elan reiße ich die Autotür auf. "Rory, ACHTUNG!", rufen Navi und meine Mutter fast synchron. Erschrocken reiße ich meinen Kopf herum und sehe den Grund der Warnung. Beinahe hätte ich die Autotür einem Passanten in die Magengrube gerammt. Gerade noch rechtzeitig springt der junge Mann zur Seite und rettet sich so vor meinem ungewollten Anschlag. 'SHIT, wie peinlich. Und das gleich bei der Ankunft in meinem neuen Leben' kommt es mir in den Sinn, als ich die Tür zum zweiten Mal, jetzt aber langsam und vorsichtig, öffne und verlegen aussteige. Mein Blick ist auf den Boden gerichtet. Als ich ihn hebe um mich bei dem Überlebenden meines Attentats zu entschuldigen, trifft es mich erneut wie ein Schlag ins Gesicht. LUKAS! DER LUKAS! Habe ich einen Schock erlitten und halluziniere?

"Aurora?", erhebt Besagter die Stimme. Okay. Er ist es tatsächlich. "Lukas...", nenne ich auch seinen Namen, um ihm zu signalisieren, dass ich mich noch an ihn erinnere. "Das... tut mir echt Leid", ergreife ich erneut das Wort und merke, wie meine Wangen langsam die Farbe meiner dunkelroten Chucks annehmen. "Das ist doch nicht so tragisch. Hast mich ja knapp verfehlt." Er lächelt mir unglaublich charmant entgegen. "Ich hätte dir aber lieber eine etwas schönere Begrüßung zu unserem Wiedersehen bereitet", gebe ich kleinlaut zurück. 'Rory reiß dich zusammen. Sei nicht wieder so schüchtern' versucht mir meine innere Stimme einzureden. 'Das ist leichter gesagt, als getan' gebe ich schnippisch zurück. Für einen kurzen Moment bricht Schweigen zwischen Lukas und mir aus.

"Wie komme ich zu der Ehre, dich hier zu treffen?", erkundigt er sich und räumt die unangenehme Stille aus dem Weg. "Hallo. Du musst Lukas sein?", fragt Navi, die sich inzwischen zusammen mit meiner Mom ebenfalls aus dem Auto bequemt hat, bevor ich auf Lukas' Frage eingehen kann. "Ja, das bin ich. Und du bist?" Er hält ihr vorsichtig die Hand hin. "Navina. Kannst mich auch Navi nennen. Aber verkneif dir bitte jegliche Witze über TomTom oder sonstige Navigationssysteme. Die kenn ich eh alle schon", begrüßt sie meine Zahnarztbekanntschaft mit einem festen Händedruck. Ich bewundere ihre taffe Art. "Freut mich, Navi. Ich werde mich dran halten. Witze auf Kosten anderer Leute, sind sowieso nicht meine Art", versichert ihr Lukas.

Meine Mutter ist mittlerweile zum Kofferraum gelaufen und beäugt kritisch die großen Kartons. Lukas streckt neugierig den Kopf und schaut wieder zu mir. "Umzug?", fragt er. "Ja. Endlich wird der Traum einer eigenen Wohnung Wirklichkeit", teile ich ihm stolz mit. "Glückwunsch, kann man sich nützlich machen?", bietet Lukas großzügig an. "Nein, du brauchst echt nicht... " "Das wär toll. Ein starker Mann im Team fehlt uns noch", unterbricht mich Navi und erntet dafür meinen Ellenbogen in ihren Rippen. Vorwurfsvoll schaue ich zu ihr rüber. Sie entgegnet nur ein freches Grinsen. "Ist schon gut. Ich helfe gerne", mischt sich Lukas in unsere anfeindende Gestik ein. Freundlich lächelnd geht er auf unser Auto zu, grüßt meine Mutter und schnappt sich einen der Kartons. "Wo muss der hin?", fragt er. "Warte. Ich schließe dir die Wohnung auf." Schnell krame ich den Schlüssel aus meiner Hosentasche und bedeute ihm mit einer winkenden Handbewegung, mir ins Treppenhaus zu folgen.

Das Leben ist gnadenlos und unfairWo Geschichten leben. Entdecke jetzt