Wir sind nur gute Bekannte

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Erleichtert lehne ich mich gegen das kühle, weiß lackierte Holz der Wohnungstür und atme ein paar Mal tief durch. Den Pizzakarton lasse ich auf das kleine Schubladenschränkchen neben der Tür sinken. Auf Dauer werde ich unseren Nachbarn nicht überleben. Er bringt mich noch um, ohne auch nur das Geringste zu tun. Mein Selbstvertrauen war noch nie das Beste. Aber jetzt, wo ich einem so charmanten und netten Menschen gegenüberstehe, habe ich noch mehr das Gefühl, mit meinem Wert nicht mithalten zu können. Er sieht gut aus - keine Frage. Und seine hilfsbereite und erdrückend liebenswerte Art lassen mich förmlich schmelzen, wie eine Tafel Schokolade, die jemand im Sommer auf dem Balkon vergessen hat.

Ich hingegen bin ein Mädchen wie jedes andere. Nichts Besonderes und einfach nur langweilig. Und meiner Einschätzung nach, auch nicht besonders hübsch. Navina meint zwar etwas anderes, aber Freunde sprechen einem nun mal gut zu. Meine rotblonden Haare sind kurz geschnitten. Auf einer Seite fallen sie ein bisschen länger, bis über mein linkes Ohr. Figurtechnisch könnte ich auch etwas dünner sein, wie ich finde. Und dann jetzt Pizza... Das trägt ja super zu meiner Figur bei.

"Rory?", werde ich von meinen beiden Freundinnen aus meinen Gedanken gerissen. "Was stehst du da so rum? Die Pizza wird kalt." Ein freundschaftlicher Schulterklopfer von Malina. "Äh... Ja sorry. Hier... Lasst es euch schmecken. Ich will nichts essen", zwinge ich mich zu sagen. "Was ist los? Du bist doch sonst kaum von Essen fern zu halten", fragt Navi vorsichtig. "Ich hab' keinen Hunger. Und ich glaube, ich werde mich kurz hinlegen. Entschuldigt mich", ist das einzige was ich sage, bevor ich in meinem Zimmer verschwinde und mich auf mein Bett fallen lasse.
Bitte nicht. Bitte nicht wieder eine depressive Phase. Gerade läuft doch alles so gut. Die Uni, die neue Wohnung, warmes Frühlingswetter, ein gemütliches Abendessen mit meinen Freunden... Kein Grund für negatives Gedankengut...
Tränen bahnen sich ihren Weg über meine Wangen. Grundlos.

Ein zaghaftes Klopfen an meiner Zimmertür lässt mich hochschrecken. "Ja?", gewähre ich Einlass während ich mir mit beiden Händen über das feuchte Gesicht wische, um den kleinen Tränenausbruch zu vertuschen. Eine besorgte Navina streckt den Kopf zwischen Tür und Rahmen herein. "Kann ich reinkommen?", fragt sie vorsichtig. "Von mir aus", meine Stimme ist leicht zittrig, doch ich versuche sie, soweit es mir möglich ist, unter Kontrolle zu halten.
"Was ist denn los, Aurora?", meint sie und lässt sich langsam in meine Matratze sinken. "Nichts, ich hab' Kopfschmerzen und mir geht's nicht so gut heute", versuche ich Navina mit simplen Krankheitserscheinungen abzuspeisen. Doch sie lässt nicht locker: "Ich sehe doch, dass da was anderes ist. Du kannst mir alles erzählen, das weißt du." "Und dafür bin ich dir unfassbar dankbar. Aber im Moment möchte ich eigentlich nur allein sein. Vielleicht ist es die ganze neue Umgebung, an die ich mich erst gewöhnen muss."
'Genau so muss es sein. Das wird sich die nächsten Tage wieder einrenken, Aurora', rede ich mir selbst ein. "Okay. Dann ruh dich für heute erst mal aus. Morgen kommt deine Familie zu Besuch. Da solltest du wieder fit sein. Und jetzt schlaf gut, Rory", sagt sie bemutternd und streicht mir sanft über den Rücken, bevor sie das Zimmer verlässt. Draußen höre ich sie etwas zu Malina sagen, die mit vollem Mund antwortet. Die Worte selbst, kann ich nicht verstehen.

Nicht wissend, was ich sonst mit mir anfangen soll, lehne ich mich zurück in meine Kissen und beginne mich selbst mit beruhigender Musik zu therapieren. 'Thistle & Weeds' von Mumford and Sons scheint mir eine gute Wahl zu sein.
Obwohl ich eigentlich weiß, dass mir dringlich empfohlen wird, in solchen Momenten etwas Fröhliches anzuhören, ignoriere ich diesen Rat. Ich möchte mir grade keine gute Laune aufzwingen. Hier in meinem Zimmer störe ich sowieso keinen mit meinen Selbstzweifeln.

Während ich aus dem Fenster starre und das orange-rosarote Farbenspiel des Sonnenuntergangs über den Dächern der Metropole betrachte, denke ich über die Beziehung zwischen Lukas und mir nach. Eigentlich kann man das kaum eine Beziehung nennen. Eine Liebesbeziehung schon gar nicht. Wir sind eher so etwas wie Bekannte... Vielleicht sogar gute Bekannte?

Am liebsten würde ich jetzt aufstehen, einfach an seiner Tür klingeln und ihn fragen, was er von mir hält. Besonders viel kann es ja nicht sein. Es gibt viel tollere Menschen als mich. Ich, die ständige Außenseiterin, die ihren Mund nicht aufbekommt um mit Fremden zu reden. Bis jetzt habe ich den Kontakt mit Menschen eher gemieden und daher nur einen sehr überschaubaren Freundeskreis. Partys sind deshalb auch sehr selten drin. Eine Geburtstagsfeier, bei der nur vier Leute anwesend sind, kann man nicht wirklich Party nennen. Eher Kaffeekränzchen, wenn's hochkommt.

In diesem Moment wünsche ich mir Balou auf meinen Schoß, der sich tröstend an mich schmiegt und durch dessen Schnurren sich die Welt ein wenig leichter anfühlt.

Das Leben ist gnadenlos und unfairWo Geschichten leben. Entdecke jetzt