Ein Stück vom Kuchen

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"Guten Morgen", begrüßt Lukas mich grinsend. "Äh... Morgen", grüße ich verlegen zurück. "Hab ich dich geweckt?", frage ich vorsichtig. Er reibt sich mit beiden Händen über das Gesicht und antwortet: "Ja, aber das macht nichts. Ich sollte sowieso langsam aufstehen und mich um ein paar Dinge kümmern." "Tut mir trotzdem Leid", entschuldige ich mich befangen. "Kein Problem. Was führt deinen Weg zu mir?", wechselt er das Thema. Ach ja, ich bin ja in Auftrag hier. "Die Sache ist die. Heute kommt meine Familie die neue Wohnung besichtigen und wir haben nichts zu essen da. Also haben wir beschlossen Kuchen zu backen. Das einzige Problem ist der Zucker. Wir haben keinen", erkläre ich hin und her tippelnd vor Nervosität, "Und da wollte ich unseren liebenswerten Nachbarn um Hilfe bitten." 'Was war das für ein Satz?! Rory, reiß dich zusammen.' Doch durch Lukas' Lächeln scheint es, als würde er es positiv aufzunehmen.
"Klar Zucker sollte ich dahaben. Komm kurz rein." Er geht einen Schritt zur Seite und macht eine einladende Geste. Unsicher trete ich ein und schaue mich um, während Lukas die Tür hinter mir schließt.

Es herrscht leichtes Chaos, welches die Wohnung aber nicht unsauber, sondern heimisch wirken lässt. Hier und da stapeln sich lose Blätter, die voll von handschriftlichem Gekrakel sind. An der Wand neben der Wohnungstür lehnt eine Gitarre. Musikalisch ist der gute Herr wohl auch noch. Ich kann einen Blick ins Wohnzimmer erhaschen. Es hat ebenso wie unseres eine große Fensterfront, vor der eine Couch steht. An ihr lehnt noch eine Gitarre. Korrigiere: Sehr musikalisch. Als ich mich wieder zu Lukas umdrehe, ist dieser verschwunden. Verwundert schaue ich in einem der Zimmer nach. Behutsam schiebe ich die angelehnte Tür ein bisschen weiter auf und werfe einen Blick hinein. Ein großes Bett steht in der Mitte des Raumes und rechts ein Kleiderschrank ohne Schranktüren. Doch von Lukas keine Spur. Nur eine weitere Gitarre, die diesmal am Bett steht. Dieses Exemplar stellt sich allerdings als eine E-Gitarre heraus. Ist der Typ ein Musikgeschäft? Der hat ja haufenweise von diesen Saiteninstrumenten. Selbst wenn er keins ist, könnte er damit eins aufmachen.
Schnell verschwinde ich wieder aus Lukas' privaten Räumlichkeiten und mache mich weiter auf die Suche nach ihm.
Als ich den Flur betrete, vernehme ich ein Geräusch hinter einer der leicht geöffneten Türen. Vorsichtig schiebe ich meinen Kopf durch den Spalt und sehe den nackten Rücken des besagten Herrn. Er steht nach oben gestreckt vor einem der Küchenregale und kramt darin herum. Vermutlich sucht er das süße Objekt meiner Begierde. Mit einem Schritt nach vorne trete ich komplett in die Küche ein und beobachte gespannt Lukas beim suchen nach dem Zucker. Es muss schon ein komisches Bild sein, wie wir hier so stehen. Lukas nur von Boxershorts bedeckt und ich etwas hilflos hinter ihm.

"Kann man dir helfen?", stelle ich kurzerhand meine Dienste zur Verfügung. Schnell dreht er sich nach mir um und schaut mir in die Augen. Dann schüttelt er den Kopf und wendet sich mit den Worten: "Danke, aber ich hab ihn gleich", wieder seinem Regal zu. 'Männer und ihr Ego' denke ich nur, antworte jedoch mit einem "Na gut" und setze mich auf einen der Barhocker, die an der Theke stehen.

Seufzend schließt Lukas das Regal und wendet sich dem nächsten zu. "Ah, hier ist er doch", meint er triumphierend und zieht eine halb volle Packung Zucker heraus. Zufrieden kommt er zu mir und drückt sie mir in die Hand. "Vielen Dank, Lukas. Du bist unsere Rettung", sage ich mit einem ehrlichen Lächeln auf den Lippen. "Kein Thema. Aber ich fordere als Pfändung ein Stück vom Kuchen", grinst er mich an. "Natürlich. Willst du dann gleich mit meiner Familie mitessen?", lade ich ihn großzügig ein. "Wann wäre das denn?", erkundigt er sich. "So gegen 15:00 Uhr", schätze ich. "Klar, warum nicht. Ein bisschen nette Gesellschaft schadet mir sicher nicht", nimmt er meine Einladung an. Das hätte ich eigentlich nicht erwartet, dennoch freue ich mich tierisch, dass er später mit uns essen möchte. "Supi, dann sehen wir uns später. Komm dann einfach rüber", verabschiede ich mich von Lukas, bis ich bemerke, dass ich noch mitten in seiner Küche stehe.
"Äh, also ich geh dann jetzt wieder", meine ich und kratze mich verlegen am Kopf. "Ich begleite dich noch zur Tür", sagt Lukas und hält mir die Küchentür auf.

Bei der Wohnungstür angekommen bedanke ich mich nochmal bei Lukas und verabschiede mich, bevor ich mich zu meiner Wohnung umdrehe. Kurz stehe ich planlos vor der verschlossenen Tür und überlege, ob ich meinen Wohnungsschlüssel eingesteckt habe. Ein Handgriff in die Tasche meiner Sweatshirtjacke beantwortet die Frage als negativ.
Hinter mir höre ich die Tür von Lukas ins Schloss fallen. Unbeirrt drücke ich auf den Klingelknopf mit der Aufschrift 'Faraday & Schilling'. Sofort öffnet mir eine blöd grinsende Navina. Mit den Worten : "So Frau Faraday. Hier ist ihre Bestellung", drücke ich ihr den Zucker gegen das Brustbein und kicke unsanft meine Schuhe in eine Ecke. "Übrigens haben wir später noch eine Person mehr auf der Gästeliste", rede ich weiter. Mit großen Augen starrt mich meine Freundin an. "Du hast ihn eingeladen?", fragt sie so ungläubig, wie als wäre sie als Atheistin bei der Wiederauferstehung Jesu dabei gewesen.
"Sieht wohl so aus", bestätige ich. Wie es dazu gekommen ist, kann ich mir auch noch nicht ganz erklären.

"Dann machen wir uns mal ans Backen", sagt Navi und setzt sich in Bewegung. Langsam folge ich ihr in die Küche. Was meine Familie wohl von unserem männlichen Besuch halten wird? Hoffentlich fallen keine peinlichen Kommentare zum Thema 'Beziehung'.
Oh Gott, wo habe ich mich da schon wieder reingeritten?

Das Leben ist gnadenlos und unfairWo Geschichten leben. Entdecke jetzt