Du wirst das bestimmt verstehen

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"Der Typ, äh... Alligatoah, kommt später auch zum Kaffee", höre ich Navina wie durch Watte den anderen erklären.
"Das geht nicht. Das muss für ihn doch total unangenehm sein, wenn er euch wiedererkennt. Außerdem denkt er dann, ein Fan weiß wo er wohnt", mische ich mich verzweifelt ein. "Ach, Rory. Das wird er schon verkraften. Er ist ein vernünftiger Mann, so wie ich ihn einschätze. Er wird das bestimmt verstehen", unternimmt Navi den Versuch, mich zu beruhigen. "Stell du dir mal vor, du findest heraus, der Bruder deiner Nachbarin kennt deine zweite Identität, obwohl du dachtest, du hast endlich mal jemand unvoreingenommenes kennengelernt. Das ist doch voll... Nicht cool", tadle ich weiter an der Tatsache herum.

Ratlos steht Navina vom Boden auf und fährt sich durch ihre kastanienbraunen Haare. "Und was schlägst du vor?", fragt sie an mich gerichtet. "Ich weiß es doch auch nicht", gebe ich verzweifelt aufstöhnend zurück. "Ausladen können wir ihn ja auch nicht mehr. Wie würde das denn kommen?", frage ich rhetorisch. "Jetzt lass ihn doch einfach mal kommen später, dann werden wir ja sehen, wie er reagiert. Vielleicht machen wir viel Drama um nichts", mischt sich meine Schwester ein. "Ich brauch mal kurz meine Ruhe", sage ich und verschwinde in mein Zimmer. Dort setzte ich mich auf mein Bett und raufe mir die Haare. Lukas ist Alligatoah. Das darf nicht wahr sein. Warum habe ich nur immer so ein Pech?
Verzweifelt vergrabe ich mein Gesicht in meinen Kissen. Diese unangenehme Situation des Aufeinandertreffens rückt unaufhörlich näher und ich habe keine Möglichkeit einzugreifen.
Was, wenn er danach nichts mehr mit mir zu tun haben möchte?
Dieser Gedanke macht mich fertig. Gequält hebe ich den Kopf um einen Blick auf die Uhr zu erhaschen.
14:26 Uhr.
In knapp einer halben Stunde möchte er da sein.
Nachdenklich lasse ich den Kopf wieder ins weiche Bett fallen, drehe mich auf den Rücken und starre gegen die weiße, hohe Decke. Einige Minuten bleibe ich einfach so liegen und konzentriere mich auf das Heben und Senken meines Brustkorbs. Meinen Kopf füllt eine erschreckende Leere.
Diese verschwindet abrupt, als jemand an meine Tür klopft. Erschrocken fahre ich hoch.
'Verdammt. Wie spät ist es?', ist das erste, was mir in den Kopf kommt.
14:38 Uhr- noch 22 Minuten.
"Hallo Maus, wie geht's dir?" Meine Mutter. Ich habe gar nicht mitbekommen, dass es geklingelt hat. Sie lässt sich zu mir aufs Bett sinken und streicht mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. In diesem Moment fühle ich mich wieder wie ein kleines Kind. Meine Mutter, wie sie mit warmem Lächeln vor mir auf dem Bett sitzt und mir mit der Hand aufmunternd den Arm entlangfährt.
"Mir geht's gut, Mama", antworte ich nach kurzem Schweigen. "Das sieht mir aber anders aus", meint sie, die Stirn in Falten gelegt. Ich könnte noch so eine gute Schauspielerin sein, sie würde trotzdem hinter die Fassade blicken können. Vor ein paar Jahren war meine Laune dauerhaft am Gefrierpunkt. Es waren keine normalen pubertären Stimmungstiefs. Es waren waschechte Depressionen. Damals war ich in Therapie und es war kurz vor einer Einweisung in eine psychiatrische Anstalt. Im Volksmund auch Klapse. Der Arzt lies es durch den Ausdruck 'stationäre Behandlung' sehr viel harmloser klingen. Die Therapie schlug bei mir nämlich nicht an und alle waren ratlos, was sie noch mit mir machen sollten. Schließlich hatte ich mich selbst in den Griff bekommen. Zumindest wahre ich den Schein nach außen hin bis heute. Meist geht es mir auch gut.
Nur manchmal bekomme ich meine Aussetzer und ich verliere mich im unendlichen Labyrinth der Selbstzweifel und der Hoffnungslosigkeit.

"Willst du mir sagen, was los ist?", fragt meine Mutter vorsichtig. Sie weiß, dass ich nicht gern über meine Gefühle rede. Vor allem nicht über negative. Durch das aussprechen meiner Sorgen fühle ich mich schwach und verletzlich. Ein Grund, weshalb Psychologen keine Chance bei mir hatten. Ich schüttle nur verneinend den Kopf. "Na gut." Sie streicht mir noch einmal über die Schulter und lässt dann von mir ab. "Kommst du mit nach draußen?" Sie steht schon im Türrahmen und schaut mich erwartungsvoll an. Ohne zu antworten drücke ich mich vom Bett hoch und gehe wortlos an ihr vorbei.
Kaum betrete ich das Wohnzimmer, kommt mir eine bekannte Stimme entgegen.
Lukas.
Die anderen stehen um die Musikanlage und reden. Lukas ist nirgends zu sehen. Ein neues Lied beginnt zu spielen.
"Es war früh am Morgen, ich nahm noch nichts bewusst war", setzt die Männerstimme ein zu singen. Jetzt ist mir auch klar, woher Lukas' Stimme kam... Genervt schiebe ich mich an den anderen vorbei und ziehe unsanft den Stecker aus Navinas Handy, mit dem sie auf YouTube irgendwelche Alligatoahmusik abspielen. Mit den Worten: "Das ist jetzt nicht unbedingt angebracht", schalte ich um auf Radio.
Welcher Song gerade läuft, kann ich nicht bestimmen. Mit aktuellen Charts bin ich mehr als nur unvertraut. Vielleicht ein weiterer Grund, weshalb ich noch nie von Alligatoah gehört habe.
Apropos Alligatoah!
Was sagt die Uhr?
Nur noch drei Minuten bis zur unausweichlichen Katastrophe...

Das Leben ist gnadenlos und unfairWo Geschichten leben. Entdecke jetzt