20

5.8K 276 25
                                    

"Sie war kein besonders netter Mensch", sagte ich zu meinem Mann, der der Leiche keines zweiten Blickes würdigte. "Aber ich möchte sie trotzdem beerdigen oder wenigstens anständig begraben." Ich spürte, dass Ethan mich am liebsten ganz weit weg von hier haben wollte, denn er zog ständig an meinem Arm, als wäre ich ein Kind, das sich verlaufen hatte.

"Baby, wenn ich jedem von mir verschuldeten Toten eine Beerdigung erstatten würde, müsste ich gleich eine ganze Kleinstadt niederreißen, um Platz für die Gräber zu schaffen." Ich funkelte ihn böse an. "Ich habe diesen Tod verschuldet, nicht du." Ich bemerkte zu spät, was der eigentlich Kern seiner Aussage war. Ethan war ein Mann seiner Worte. Wenn er sagte, dass er die Größe einer Stadt brauchen würde, um für die von ihm ermordeten Menschen einen Friedhof zu schaffen, dann war es das wahrscheinlich auch so.
Ich versuchte geschockt zu sein, aber alles, was ich verspürte, war traurige Resignation.

Als ich ihm auch nach einer kleinen Ewigkeit immer noch nicht geantwortet habe, seufzte er ergeben. "Ich werde sehen, was sich da machen lässt." Meine Lippen verzogen sich zu einem kleinen Lächeln, mir der Toten ein paar Meter daneben immer noch allzu deutlich bewusst.

Plötzlich umschlossen Ethans Hände meine Wangen, sanft, aber bestimmend. Fast schon automatisch schloss ich die Augen, kostete diesen Moment aus, ließ das Blut, die Gewalt und meinen hirnrissigen Plan aus meinem Kopf treiben. Bevor ich sie wieder öffnete und in die Realität zurückkehrte, nur um mein eigenes, liebevolles Lächeln in seinem Gesicht wiederzufinden. Es war noch etwas schief, auf jedenfall ungewohnt für ihn, aber es war da. Weshalb konnte er nicht diese Seite der Menschheit präsentieren? Nicht sein alles verschlingendes Selbst, das nie gesättigt zu sein schien, und tötete er noch so viele Personen. Sah er überhaupt noch Individuen in ihnen?

"Willst du mich nicht fragen, weshalb ich in dein Büro gekommen bin?", fragte ich ihn leise und zerplatzte somit meiner eigene, Harmonie gefüllte Blase. Niemand betrat sein Reich, ohne von ihm eingeladen zu werden, dafür würde ich geradestehen müssen.
Aber er... er zuckte tatsächlich nur mit den Schultern und lächelte mich weiterhin auf diese ungewohnte, aber sehr willkommene Art und Weise an. "Du hast ein neugieriges Naturell und wolltest sehen wo ich arbeite... Und vielleicht hast du mich ein klein wenig vermisst?" Er zog herausfordernd eine Braue hoch.

Tatsächlich war das genau die Ausrede, die ich ihm hatte geben wollen, da sie am nächsten an der Wahrheit lag. Jetzt war ich an der Reihe, mit den Schultern zu zucken. Ethans wunderschöne, smaragdgrüne Augen begannen zu funkeln und zogen mich in ihren Bann. Ich bekam nur am Rande mit, wie Alistair die Leiche der Frau wegtrug und dass wir vermutlich Zuschauer hatten, als er sich zu mir hinunter beugte und-

"My Lord!"
Ethans Lippen stockten direkt über meinen und seine Augenbrauen zogen sich bedrohlich zusammen. Ich spähte über seine Schulter, da er immer noch gebeugt stand, musste ich mich nur ein wenig auf die Zehnspitzen stellen.
Eine junge Frau mit kurzem, braunen Haar kam auf uns zugeeilt. Sie trug einen schwarzen Catsuit und eine durchsichtige Brille, die komplett aus Kunststoff zu bestehen schien. Sie sah eins zu eins aus wie eine Spionin aus einem Hollywoodstreifen.

Sie fing meinen Blick mit ihren kalten, hellblauen Augen auf und schenkte mir ein kurzes Kopfneigen, bevor sie sich wieder auf Ethan fokussierte.
Dieser hatte sich inzwischen wieder aufgerichtet und schlang einen Arm um meine Taille, presste meinen weichen Körper an seinen steinharten. Obwohl sein Griff immer noch sanft war, konnte ich die Kälte spüren, die jetzt von ihm ausging.

Zu meiner grenzenlosen Überraschung jedoch verzog die Frau keine Miene und sah nur emotionslos und zu einhundert Prozent professionell zu ihm hoch. Als würde sie nicht gerade einem Massenmörder ins Gesicht blicken.
Einem Massenmörder, den ich noch gerade liebvoll angelächelt hatte. Es war, als würden zwei Persönlichkeiten in mir leben.

"Es ist dringend", sagte die Frau, als Ethan sie nur weiterhin anschwieg. "Wenn es nicht dringen wäre, hätte ich nicht meine erste Mahlzeit seit fünf Tagen ausgelassen." Sie sagte das so emotionslos, dass es mir kalt den Rücken runter lief. Fünf Tage!? Das war verrückt. Meine Gedanken mussten mir laut und deutlich im Gesicht gestanden haben, denn sie teilte mir in ihrer roboterhaften Stimme mit: "Ich habe mich an ein neues Gift in kleinen Dosen an mir getestet, ich hätte das Essen so oder so nicht richtig verdauen können. Eine Verschwendung."

Mit diesen Worten wandte sie sich wieder Ethan zu, wofür ich dankbar war, denn ich war mir ziemlich sicher, dass man mir meinen Schock und, so seltsam es auch war, mein Mitgefühl ansehen konnte. Diese Frau erschien mir nicht wie jemand, der mit solchen Emotionen etwas anzufangen wusste. Am Ende wären sie nur ein Ärgernis für sie.

Als Ethan sich immer noch nicht gerührt hatte, und ich ein leises Knurren ihres Magens vernahm, räusperte ich mich. "Ich wollte sowieso gerade gehen, Jaswinda und ich wollten noch einige Dinge erledigen." Bei der Nennung ihres Namens tauchte sie wie ein Schatten am Ende des Flurs auf, als hätte sie nur auf diesen Moment gewartet.
Ich legte Ethan ein letztes Mal beruhigend die Hand an die Wange, da alles an ihm ausstrahlte, einen Widerspruch einzulegen und nickte, nachdem die Spannung aus seinem Körper gewichen war, Adele zum Abschied zu, bevor ich zu Jaswinda eilte.

Ich hakte mich bei ihr unter und versuchte so gemäßigt wie möglich mit ihr um die Ecke zu schlendern, obwohl ich nicht vergessen hatte, womit ich sie beauftragt hatte.
Kaum waren wir außer Hörtweite, beugte sich Jaswinda bereits zu mir herunter. Der ernste Zug um ihren Mund und die gehärteten, kaffeebraunen Augen sorgten für einen gewissen Tumult in mir. Wieso hatte ich eine schlechte Vorahnung für das, was gleich kommen würde? Andererseits, was konnte man schon innerhalb von ungefähr zwölf Stunden herausbekommen haben, oder?

"My Lady, ich glaube, Ihnen wird nicht gefallen, was ich Ihnen zu berichten habe." Ich seufzte und griff mir an die Nasenwurzel. Selbst schuld, zu versuchen, sich Hoffnung einzureden. "Nicht hier, gibt es einen Ort, wo man ungestört reden und ein wenig frische Luft bekommen kann?"
Jaswinda nickte, immer noch todernst. "Der Salon im Westflügel ist unbenutzt und besitzt einen kleinen Wintergarten. Ich führe euch hin."

B

Schachmatt #3 Das Spiel der Könige Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt