Prolog - Der erster Notruf.

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┊  ┊  ┊          ★ ISABELL

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Der Sturz war ein freier Fall.


. . .


Mein Herzschlag setzte den Hauch einer Sekunde aus.


. . .


Angst und Panik fraßen sich durch jede Zelle meines Körpers.


. . .


Was passierte hier?


. . .


Der Aufprall kam, hart und schmerzhaft. Die Wucht traf mich vollkommen unvorbereitet und es folgte ein zweiter und dritter Aufprall. Als wäre ich ein Ball ohne Ecken und Kanten, unfähig zu stoppen.

Unaufhörlich bewegte sich die Rolltreppe weiter, mein Kopf bretterte gegen die Seiten, ich konnte mich nicht schnell genug bewegen, um mich aufzurappeln. Viel mehr blieb ich wie gelähmt liegen und spürte im ersten Moment nichts.Absolut gar nichts.

Irgendwo rauschte es.

Mein gesamtes Umfeld drehte sich, das Bild vor meinen Augen flackerte. Dann war da nur dröhnende Stille und mein eigenes rasendes Herz. Schließlich ruckte die Rolltreppe und plötzlich blieb sie stehen.

Als hätte man die Zeit angehalten.

Über mir brannte die kalte Neonleuchte und die scharfen Zacken der Stufen gruben sich in meine Schulter und in das Fleisch meines rechten Beines. Es fühlte sich an, als hätte der Sturz meine Jeans aufgerissen. 

Schwer stieß ich den Atem aus und blinzelte mehrmals. Erst dann begann ich langsam zu begreifen, was gerade passiert war.

Ich war die Treppen runter gestürzt.

Genau... die Mädchen...

Wo waren sie?

Vor allem, wer waren sie?

Zögernd begann ich den Kopf zu drehen, doch er schmerzte so heftig, dass ich es ließ. Jede kleine Bewegung fühlte sich an wie Nadelstiche. Ich lag auf meiner rechten Schulter und mein kompletter Oberkörper war verdreht.

Gepresst keuchte ich.

Mit der linken Hand tastete ich automatisch in die Seitentasche meines Parkas. Während ich mich angestrengt versuchte zu konzentrieren, sah ich meine Handtasche fünf Stufen weiter unten liegen. Ich hatte nicht einmal bemerkt, dass ich sie verloren hatte. Meine Finger zitterten, waren taub und plötzlich schmeckte ich auf der Zunge einen metallischen ekelhaften Geschmack.

Er war widerlich und rief Brechreiz bei mir hervor. Kurz würgte ich und je länger ich damit kämpfte, mit der linken Hand an mein Handy zu gelangen, umso mehr wurde mir klar, dass diese drei Mädchen abgehauen waren.

Sie hatten mich hier einfach liegen gelassen.

Als wäre ich Dreck.

Wieso hatten sie das getan?

Ich kannte sie nicht und sie mich nicht. Oder konnte ich mich bloß nicht an sie erinnern?

Ich brauchte lange, bis ich das Handy endlich in meiner Jackentasche ertastete und dann rutschte es mir auch noch zwischen den Fingern weg. Mit geweiteten Augen sah ich mit an, wie es eine Stufe tiefer schepperte. Ich hörte das Klirren nicht und mir wurde klar, dass ich meine CI's verloren hatte.

Sie waren weg. Einfach nicht da.

Die Wucht des Sturzes hatte der Magnet am Kopf nicht standgehalten. Natürlich nicht.

Und zum ersten Mal in diesem Augenblick, bekam ich solch eine Panik, dass ich anfing zu schluchzen. Das Gefühl der Hilflosigkeit machte mir Angst. Ohne Gehör fehlte mir eine weitere Wahrnehmung.

Ich konnte hier nicht einfach liegen bleiben bis auf gut Glück Leute vorbei kamen. Irgendwie musste ich jemanden Bescheid geben. Mit viel Kraftaufwand bewegte ich meine Beine, sodass der Oberkörper sich Richtung nächster Stufe rollte. So schaffte ich es erneut an mein Handy zu kommen.

Mühselig entsperrte es und wollte mich durch mein Menü navigieren. Doch meine Finger zitterten stark und bewegten sich nicht so, als hätte ich sie unter Kontrolle. Ich würde ewig brauchen, um die SMS-Funktion für den Notruf nutzen zu können, der extra für gehörlose Menschen eingerichtet worden war. Mit der Spracherkennung kam ich nicht gut zurecht, sie schrieb die Wörter anders als ich sie sagte.

Trotzdem war sie meine einzige Chance.

Mit klopfenden Herzen gab ich die Notrufnummer, die mir helfen würde, ein und öffnete die Spracherkennung. Ich sprach Wort für Wort und wusste nicht, ob ich die Silben auch richtig betonte. 

Auf meinem Display erschien: 'Hilfe Sturz Wembley-Stadion Tube Rolltreppe.' 

Das musste reichen, sie würden hoffentlich jemanden schicken. Zweimal tippte ich zu langsam mit dem Daumen, doch endlich ging die SMS raus.

Nahezu atemlos wartete ich auf das Zeichen für die Versendung und betete, dass alles richtig funktionierte. Ich konnte den Drang zu heulen nicht unterdrücken und bereute es zutiefst, dass ich mir damals nicht extra die App runterlud, von der Noah mich so heftig versuchte zu überzeugen.

Wie konnte ich glauben, dass ich sie so schnell nicht brauchen würde?

Ich wünschte, ich könnte ihn erreichen oder säße jetzt mit ihm ganz gemütlich im Speck-Eck. Nur wir beide, dazu ein Bier und ganz banale Themen. Das hätte ein völlig normaler Abend werden sollen. Hoffentlich dachte Noah nicht, ich hätte ihn vergessen. Ich musste ihm Bescheid sagen, irgendwie.

Mir fiel das Handy aus der Hand, wieder flackerte das Licht vor meinen Augen und ich blinzelte. Nun wurde mir eiskalt und ganz zaghaft verschwand der Schock aus meinem Körper. Stattdessen machte sich nun der Schmerz des Sturzes breit.

Mein Knöchel pochte, das Knie brannte und der Arm unter meinem Körper sendete ebenfalls Schmerz aus. Doch am schlimmsten war mein Kopf.

Wie aus weiter Ferne sah ich gefühlt eine Ewigkeit später mein Handy blinken, jemand rief mich an und beinahe hätte ich zynisch gelacht. Man rief mich nicht an, jeder in meinem Umfeld wusste das. Ich telefonierte nicht.

Der Zynismus verschwand.

Mein Bewusstsein in derselben Minute auch.  

Jenseits der Stille ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt