Der alte Freund

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Dieser Text enstand aus einer Erinnerung, aus altem Gefühl quasi. Früher hab ich mich öfter einsam gefühlt, als es wirklich der Fall war. Und dieser Text ist der stumme Zeuge dieser Zeit. Viel Spaß beim Lesen.

Es war schon dunkel geworden, als er das Haus verließ. Es war noch nicht so spät, doch hatte der Winter nun vollen Einzug gehalten.
Er liebte den Winter. Zwar war die Nacht länger und die Straßen durchzogen kalte Winde, doch machte der Schnee all diese Sorgen wett.
Er hatte seine Wohnung kaum hinter sich gelassen, als er sich nun endlich seine Jacke überstreifte. In Eile hatte er sich diese gegriffen und war losgelaufen.
Wohin wusste er jetzt noch nicht.
Hauptsache fort.

Die Straßen waren noch recht belebt, als er weiterlief. Seine Beine trugen ihn dabei immer schneller.
Er wollte raus, er musste raus.
So wie viele Tage zuvor.

Er wusste schon lange nicht mehr, wo ihm eigentlich der Kopf stand. Es gab so viel zu tun, so viele Arbeit auf dem Tisch.
Doch auch jetzt floh er wieder, ohne mit dem Stapel angefangen zu haben.
Irgendwie hatte er das Gefühl, dass die Arbeit sich häufte, und davor fürchtete er sich.
Dabei liebte er seine Arbeit eigentlich, weil er genau das tat, was er gut konnte: musizieren.
Aber hatte er seit Wochen keines seiner Instrumente in der Hand.
Der Papierkram ging vor.

Noch bis vor einigen Jahren hätte er niemals geglaubt, dass zur Musik so viel Arbeit gehört. Damals hatte er einfach sein Ding gemacht, hatte spaß und jeden Tag hörte man seine Melodien.
Doch nun war es so anders.

Er kam dem Stadtrand immer näher, aber er blieb nicht sehen.
Fast schon im Rennen verließ er seine Stadt, als würde er von etwas verfolgt.
Dabei war nichts hinter ihm.

Nur seine Angst, dass er das alles nicht schaffte.

Diese Furcht vor dem Versagen trieb ihn schon lange vorwärts. Es war eigentlich sein Antrieb gewesen, sodass er sich immer neu ausprobierte, immer neue Wege ging. Die alten Pfade lagen schon lange hinter ihm.
Jetzt hingegen scheuchten sie ihn immer weiter weg von der Arbeit. Immer weiter weg von der Verantwortung, die er eigentlich hatte.
Diese Angst fühlte sich nie an wie eine Mauer, wie er es mal gesungen hatte, immer wie eine Peitsche.
Am Anfang dachte er noch, dass es vielleicht jedem so ging und das alle diese Peitsche sahen.
Aber das konnte nicht sein, da jeder seine Pläne und Arbeit schaffte.
Bis auf ihn.

Er lief immer weiter, bis er an einem Flusslauf ankam.
Das kleine Bächlein zu seinen Füßen war nicht gefroren, da es schneller floss, als das die Kälte es ergreifen könnte.
"Du bist auch auf der Flucht, was?",fragte er leise und schaute in die Richtung, aus der der Bach kam.
Er musste lächeln bei dem Gedanken, dass auch das kleine Quellchen vor der bösen Kälte floh.

Er setzte sich in den Schnee, vor den kleinen Fluss. Seine Klamotten waren ihm egal, er wollte nun der kleinen Quelle bei seiner Flucht zusehen.
Ihm war einerlei, wie sinnfrei diese Aktion war, oder was er ansonsten tun könnte.
Er wollte den Kopf frei haben und das Bächlein beobachtet.
Wie der Bach sich so fühlt, fragte er sich. Vermutlich ist er in Eile, versuchte immer schneller zu werden. Er hatte vielleicht Angst, dass er es nicht schnell genug schaffte, bevor der kalte Wind ihn einholt. Oder er denkt möglicherweise daran, was passieren wird, wenn er den Wettlauf verliert.

Er war in seinen Gedanken versunken, fast schon gefangen. So bemerkte er erst gar nicht, wie sich jemand neben ihn setzte.
Der Fluss floss schneller, nahm er an.
"Was machst du hier?",fragte eine ihm sehr bekannte Stimme. Diese raue Farbe, die leicht in dieser Stimme mitklang, hätte er unter tausenden wiedergefunden.
"Ich weiß es nicht",antwortete er desinteressiert, aber schaute nicht von diesem Bach auf,"irgendwie ist alles gerade... Ich weiß es nicht."
"Hm",war die Reaktion von seinem alten Freund darauf. Er wusste nicht, obwohl er wirklich nicht wusste, was er sagen sollte, oder ob er nur die Wahrheit aus ihm herauslocken wollte.

"Dieser Bach ist schön",bemerkte sein Freund nach einiger Zeit,"schönes Fleckchen."
"Dieses Bächlein ist auf der Flucht",sprach er seinen Gedanken aus. Er sah den verwunderte Blick zu seiner Rechten aus dem Augenwinkel.
"Dieser Bach flieht, aus Angst vor der Kälte, die ihn stoppten könnte. Die Kälte, die ihm aufhält, wenn er doch noch seinen Weg bestreiten will. Sie hält ihn fest, dabei hat er gar nichts verbrochen."

Danach wurde es still um beide. Wie gebannt starrte er immernoch auf diesen Bach und überlegte, ob er ihm etwas raten könnte, wenn er musste.
"Dieser Bach ist auf der Flucht",sagte sein langjähriger Freund bedacht,"so wie du gerade?"
Er konnte hören, wie vorsichtig diese Worte gewählt worden waren. Er wusste, dass einer seiner engsten Freunde ihn niemals verletzen wollte, darum stellte besonders er normalerweise niemals solche Fragen.
Bis heute.

Doch antwortete er nicht, sondern starrte auf den Bach, auf seinen Mitstreiter auf diesem steinigen Weg. Sein Anker war dieser Bach, weil nur er am besten diese Strapazen kannte.
Sein Freund rechts von ihm sah ihn an, doch hatte er nicht den Mut zurückzublicken. Die Angst, die Peitsche, die ihn eigentlich nie im Stich gelassen hatte, zog sich um seinen Hals, raubte ihm die letzte Luft.
"Dieser Bach ist ein Freund",antwortete er bloß und schaute nach einigen Minuten doch zu seinem Vertrauten,"dieser Bach ist ein Freund alter Tage. Ein Freund, der genau versteht, was in mir gerade vorgeht. Der jeden meiner Gedanken genau so empfindet."
Sie starrten sich nur an, er wusste nicht ob geschockt oder überrascht, verwirrt oder gar sauer, weil er nicht darüber gesprochen hatte.
Mit niemandem.

Sein Freund schaute nun auf das fließende Wasser zu ihren Füßen. Dessen rechte Hand tauchte in das eisige Wasser und schwamm etwas hin und her.
"Dieser Freund der alten Tage",begann sein alter Freund,"fühlt den Schmerz, der ihm die Kälte bringt. Wie du die Mauer sehen kannst, die sich vor dir verbirgt. Diese hohe Mauer aus Angst und Furcht, die nur der Hammer der Mut zerschlagen kann. Der Hammer ist aber nicht verschlossen, liegt immer bereit. Nimm diesen an dich. Der alte Freund hier würde sich das wünschen."
Er sah seinem Freund dabei zu, wie er die Quelle berührte. Seine Worte schwebten noch in seinem Kopf.

Er hatte recht. Er hatte einfach recht.

Ohne noch etwas zu sagen fiel er ihm um den Hals. Neben dem Bächlein gab es einen zweiten Anker, einen zweiten Freund. Jemand der es trotzdem verstand.

Sie saßen zu zweit nun da, sich einfach in den Armen liegend. Der Schnee, die Kälte, die Peitsche, die Mauer waren vergessen. Der alte Freund lag neben ihnen, floss seinen Weg.

Adevntskalender 2018: Auf den Spuren der VergangenheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt