Kapitel 21

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Vivi

Die letzten paar Tage waren mit Abstand die Aufregendsten meines Lebens gewesen und das beinhielt das eine Mal, als unsere Ferkel John kreuz und quer über die Farm gejagt hatten. Kaum vorzustellen, dass das nun schon zwei Jahre her war. Wie schnell die Zeit doch verging.

Jedenfalls wollte ich jetzt erstmal Ciel helfen. Dabei mussten wir allerdings aufpassen, nicht gesehen zu werden. Ich führte uns zurück zur Farm, wo wir sahen, dass all unsere Pferde fort waren. Das bedeutete, dass niemand zu Hause sein sollte. Um sicher zu gehen, versteckte ich Ciel hinterm Haus, sodass man ihn vom Eingang nicht sehen konnte.

Rückblickend tat es mir leid, so schlecht auf Ciel reagiert zu haben. Aber wie hätte ich wissen sollen, dass er keiner von den Dämonen war? Naja, doch, er war schon einer, aber irgendwie auch nicht? Das war so verwirrend. Jedenfalls war ich froh, dass ich ihm geholfen hatte. Mein Gefühl sagte mir, dass ich von dieser Erfahrung etwas Wichtiges lernen würde.

Vorsichtshalber schlich ich mich, so leise wie möglich, ins Haus und ging die Treppe hoch in mein Zimmer. Ich nahm mir eine Tasche, die ich eh nie benötigte, und ging wieder herunter.

„Viviane, bist du das?" sagte meine Mama plötzlich. Sie stand genau zwischen mir und der Küche.

„Mama. Ja, ich bin es."

Sie zog mich in ihre Arme und drückte mich fest an sich. „Oh Viviane, ich bin ja so froh. Ich hatte schon das Schlimmste befürchtet, als dieser Mann dich verschleppt hat. Bist du verletzt?" Sie ließ mich langsam los und betrachtete mich von oben bis unten.

„Er hat mich nicht verschleppt. Ich habe ihn verschleppt. Und nein, mir geht es bestens." Ich drängte mich an ihr vorbei und fing an Proviant einzupacken. „Was Papa und die Jungs versucht haben war falsch. Wir hätten es einfach ausdiskutieren können, aber nein, mir hört ja niemand zu. Besonders nicht, wenn meine Meinung von eurer abweicht."

Sie musterte mich eigenartig. „Viviane, was hast du vor?"

Ich antwortete, ohne sie anzusehen. „Ciel braucht ein paar Sachen für seine lange Reise nach Hause und er kann nicht in die Stadt, weil... Ach, du weißt warum." Ich seufzte frustriert und sah dann in ihre Richtung. Meine Mama konnte ziemlich hart und eigensinnig sein, aber sie hatte ein gutes Herz. Wenn mich irgendwer verstehen würde, dann sie. Ich beschloss also, ihr zu erzählen, was wirklich passiert war. Sie sah die ganze Zeit über skeptisch aus, aber das konnte ich ihr nicht übelnehmen. Anschließend ging ich langsam zu ihr und nahm ihre Hände in die Meinen. „Komm mit mir nach draußen. Ich möchte dich meinem neuen Freund vorstellen."

Wir gingen hinters Haus, wo ich Ciel versteckt hatte, aber, als wir um die Ecke gingen, sah ich, wie Ciel nur regungslos da stand. Er war in einer Art Schockzustand und bewegte sich kein einziges Stück. Ich konnte nicht einmal sehen, ob er atmete. Mein Kopf schoss in die Richtung, in die er blickte und... Oh, Oje. Er sah sein Spiegelbild im Fenster.

Vorsichtig machte ich ein paar Schritte in seine Richtung und versuchte ihn sanft aus seinem Zustand zu befreien. „Ciel, hör mir zu okay? Nur-"

„Nein, nein, nein, nein, nein... Das bin ich nicht. Das ist alles nur Einbildung", wisperte er panisch. Er schien seinen Blick nicht von seinem Spiegelbild abwenden zu können.

„Ciel", rief ich ihn etwas lauter, in der Hoffnung seine Aufmerksamkeit auf mich zu richten. Und es gelang mir auch. Sein Blick huschte zu mir und ich ging nochmal einen Schritt näher. „Ciel, versuch erstmal dich zu beruhigen, okay?"

Er stieß zitternd seinen Atem aus. „Wie kannst du mich überhaupt so ansehen?" Ich stand nun direkt vor ihm und sah unnachgiebig in seine stürmischen Augen.

„Wie sehe ich dich denn an?" fragte ich, obwohl ich die Antwort schon kannte.

„So, als wäre ich nicht gerade einem Albtraum entsprungen. Als wäre ich kein Monster."

„Weil du Keins bist. Ciel, ich-" Ich streckte meine Hand nach seiner aus, aber er wich rückwärts von mir weg und schüttelte energisch den Kopf.

„Viviane", sagte mein Mutter plötzlich und ich drehte mich halb zu ihr um. Ehrlich gesagt hatte ich ganz vergessen, dass sie auch hier war. Sie sah verwirrt aus, was in dieser Situation verständlich war. Ich wollte mir nicht vorstellen, was gerade in ihrem Kopf vorgehen musste. Ihr Blick schweifte ganz kurz zu Ciel und dann über ihre Schulter. „Ich kann die Pferde hören."

Ich schnappte nach Luft und sah wieder zu Ciel. „Lauf", drängte ich ihn und er tat es. Verwirrt, sah ich nun zu meiner Mama. Sie zog mich nochmals fest in ihre Arme. „Pass gut auf dich auf. Auf deinen Freund auch", flüsterte sie mir ins Ohr und ließ dann los.

Ich sah sie verwundert an. „Mama, ich... Das werde ich. Aber wieso?"

„Du hast schon lange auf so etwas gewartet. Na los, geh schon", antwortete sie mit Tränen in den Augen. Auch bei mir sammelten sich die Tränen, aber wir würden sie beide nicht fallen lassen.

„Danke Mama", sagte ich gefühlvoll. Dann drehte ich mich um und lief Ciel hinterher, durch unser Maisfeld, in Richtung Osten. Als ich endlich am anderen Ende des Felds herauskam, sah ich wie Ciel weiter, schnurstracks geradeaus lief.

„Ciel!" rief ich, aber er konnte mich scheinbar nicht hören. Wenn er noch weiter geradeaus lief würde er dort landen. „Ciel! Warte!" wiederholte ich ein paar Male, aber er hörte einfach nicht. Ich rannte so schnell ich konnte, in der Hoffnung ihn noch einholen zu können, bevor er den Wald betrat, aber ich war nicht schnell genug. Ciel lief, ohne zu zögern, in den Wald und ich blieb zaghaft davor stehen. Mein Herz raste wie verrückt und das nicht nur vom Sprint. Ängstlich schaute ich an den riesigen Bäumen hoch.

Der Veersheilwald. Das unendliche Labyrinth.

Ich atmete ein paar Mal tief ein und aus. Kaum zu glauben, dass ich das tatsächlich tat, aber ich konnte Ciel dort nicht allein lassen. Jetzt hieß es nur ‚Augen zu und durch'.

„Ciel!" rief ich nochmal, während ich durch den Wald irrte. Ich seufzte und fragte mich, wie weit er wohl hineingelaufen war. Plötzlich hörte ich rechts von mir jemanden schluchzen und folgte dem leisen Geräusch bis zu ihm.

Ciel saß mit gekrümmten Schultern an einem Baum. Er hatte die Knie eng an seinen Körper gezogen und stützte seinen Kopf auf ihnen ab. Diesen großen, stämmigen Mann so... zerbrechlich zu sehen, war herzzerreißend. Ich kniete mich neben ihn ins Gras und zog ihn schweigend an meine Brust. Keine Wörter, die ich in meinem Kopf zusammenstellte, hätten ihn in irgendeiner Weise aufmuntern können, also strich ich ihm sanft, mit einer Hand, durch seine kupferfarbenen Haare und hoffte, dass es ausreichen würde.

Ich wusste nicht, wann ich selbst angefangen hatte zu weinen und, um ehrlich zu sein, war mir das völlig egal. Ich schloss nur meine Augen und hielt ihn noch fester.

Der Strom des Lebens I [Gespaltene Welten]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt