Kapitel 28

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Dorean

Seitdem ich aufgewacht war, bekam ich ständig komische Blicke von Lorelei zugeworfen. Okay, sie machte oft komische Gesichtsausdrücke, aber das hier war anders. Irgendwie hatte ich ein sehr schlechtes Gefühl dabei, aber ich wusste auch, dass ich einem Gespräch mit ihr nicht lange aus dem Weg gehen konnte. Um was es auch ging, es war wahrscheinlich am besten, es gleich hinter mich zu bringen.

Als sie mir von der Nixe erzählte setzte mein Herz einen Schlag aus. Was war das denn für ein Glück? Von allen magischen Wesen, die sie hätte treffen können, war eine Nixe wohl am unwahrscheinlichsten. Nixen lebten sehr zurückgezogen. Der Standort ihrer Stadt war ein Mysterium. Einige dachten sogar, dass sie ausgestorben waren, wie die Seher.

Aber wenn mich wirklich eine Nixe geheilt hatte, hatte sie es bestimmt rausgefunden. Hatte sie es allen erzählt? Wenn ja, steckte ich echt richtig tief in der Scheiße.

Je länger wir hier saßen und die Sterne beobachteten, desto besorgter wurde ich. Ich wünschte mir wirklich, dass Lorelei einfach irgendwas sagen würde, aber, natürlich, als sie es endlich tat, wünschte ich, sie hätte weiter geschwiegen.

„Bist du ein Drakonier?"

Ich schloss meine Augen und atmete tief ein. Meine Antwort stieß ich beim Ausatmen, zusammen mit der Luft, aus.

„Ja."

Was sollte ich noch dazu sagen? Nichts, was ich sagen konnte, änderte die Tatsache, dass ich sie alle belogen hatte. Ich konnte spüren, wie sie mich unentwegt ansah, aber ich wagte nicht zu ihr rüber zu schauen. Einen abweisenden Blick von ihr würde ich nicht ertragen können.

„Du hast die Narben gesehen", sagte ich schlussendlich. Mein Blick wanderte überall hin, außer zu ihr.

„Ja", antwortete sie leise, „Nura hat sie gefunden. Sie hat nichts gesagt, aber nachdem sie gegangen war, habe ich... Ich war neugierig."

Meine Hände wanderten unbewusst zu den Narben, hinter meinen Ohren. Verdammt, ich musste nur daran denken und schon juckten sie wieder.

„Ich habe seitdem viel darüber nachgedacht", fuhr sie fort, „und ich glaube, ich verstehe warum du es uns nicht erzählt hast."

Irgendwo tief in mir, spürte ich einen kleinen Funken Hoffnung, der nur darauf wartete zu entflammen. Aber Verstehen hieß nicht Vergeben und zu viel Hoffnung konnte ich mir nicht leisten.

„Aber?" fragte ich, als sie nicht weitersprach.

„Aber ich glaube nicht, dass ich dir in Zukunft vertrauen kann, wenn ich nicht die Wahrheit über dich weiß."

Ich hätte fast aufgelacht. Die Wahrheit... Wie sollte ich ihr die Wahrheit sagen, wenn ich sie selbst nicht kannte? Alles, vor jenem Tag, war selbst mir ein Rätsel. Ich biss die Zähne zusammen. Was jetzt?

„Dorean, sieh mich an." Ihre Stimme klang tiefer, befehlender als sonst. So hatte ich sie noch nie sprechen gehört. Ich seufzte. Mir blieb wohl nichts anderes übrig, als aufzugeben. Langsam drehte ich meinen Kopf zu ihr und hob meinen Blick. Zu sagen, dass mich ihr Gesichtsausdruck überrascht hatte, wäre eine Untertreibung gewesen. Ihr Blick hielt weder Hass noch Wut. Sie musterte mich nur und... lächelte?

„Ich möchte, dass du mir die Wahrheit über dich erzählst, aber das muss nicht heute Nacht sein. Es gibt nur eine Frage, die du mir jetzt und hier beantworten sollst."

Ich nickte nervös und hoffte, dass es eine Frage war, die ich wenigstens beantworten konnte.

„Was möchtest du tun?"

Was? War das eine Fangfrage? Ich starrte sie für einen Moment ungläubig an. Schließlich wandte ich meinen Blick wieder von ihr ab und sah zum Himmel rauf.

„Ich weiß nich'", antwortete ich ehrlich, „ich hab' kein Zuhause oder jemanden, zu dem ich gehen könnte. Bevor ich nach Aphillia kam, bin ich nur blind in der Gegend rumgelaufen. Ich hab' auch nie besonders viel über die Zukunft nachgedacht."

Lorelei seufzte übertrieben laut. „Dorean, ich schätze deine Ehrlichkeit im Moment wirklich sehr", sagte sie leicht irritiert, „aber ich wollte eigentlich auf etwas ganz anderes hinaus."

Also war es doch eine Fangfrage gewesen.

„Lass es mich anders ausdrücken", fuhr sie fort, „möchtest du bei uns bleiben?"

Das hatte sie gemeint? Hätte sie das nicht etwas anders ausdrücken können?

Ich konnte kaum glauben, wie sich mein Leben in nur einer Woche verändert hatte. Ich war zweimal fast gestorben und das Schloss wirkte echt einschüchternd, aber irgendwie mochte ich die Gesellschaft. Um ehrlich zu sein, fand ich es toll ein Teil der Gruppe zu sein. Irgendwann hatte ich angefangen bei ihnen bleiben zu wollen, wirklich dazu zu gehören und zu sehen was Lorelei erreichen würde. Aber was könnte ich ihr überhaupt bieten? Ich war ein Drakonier ohne Hörner, ein magisches Wesen, das seine Magie nicht nutzen konnte. Ich war praktisch nutzlos.

Ich fragte mich, was Graham wohl zu all dem sagen würde. Dieser alte Kauz. Er würde mich wahrscheinlich anbrüllen, dass ich mich lieber von allem fernhalten sollte.

****** Vor fünf Jahren ******

Graham zog mich am Arm zurück ins Haus.

„DOREAN!" wütete er, „wie oft soll ich's dir denn noch sagen?! Du sollst nich' in diesen Teil des Waldes gehen!"

„Warum?!" schrie ich zurück. Ich war im Stimmbruch, deshalb klang mein Geschrei mehr nach dem eines Fuches, als einer Person. Es war alles andere als einschüchternd. „Ich raff's einfach nich'. Ich darf überall hingehen, nur dahin nich'. Warum?!"

„Weil ich dich da gefunden habe, verdammt! Was denkst du, würden diese Leute tun, wenn sie dich fänden, hm?"

„Woher soll ich das wissen? Ich weiß gar nichts, hast du das vergessen?!"

Graham seufzte müde und setzte sich auf einen Stuhl am Esstisch. „So hab' ich das nich' gemeint." Er zeigte auf meinen Kopf. „Ohne deine Hörner bist du hilflos. Könntest genauso gut 'n Mensch sein."

„Und was is' daran so schlimm?" fragte ich, immer noch genervt.

„Nichts. Sie sterben nur so leicht", antwortete er nachdenklich. Er machte sich scheinbar Sorgen um mich.

„Ich nich'", erzählte ich ihm entschlossen, „ich werd' nich' so einfach sterben, aber ich werd' mich auch nich' für immer hier verstecken. Irgendwann werd' ich von hier verschwinden. Ich werd' jemanden finden, der sich 'nen Dreck um meine Magie schert, jemand, der über meine Fehler hinweg sieht. Ich werd' überleben und dann werd' ich zurückkommen und dir ein ‚Ich hab's dir doch gesagt' an den Kopf knallen!"

****** In der Gegenwart ******

Es war fast lustig, wie sehr ich mich seitdem verändert hatte. Mir fehlte heute vielleicht die Entschlossenheit von damals, aber mein Ziel war noch dasselbe, oder nicht?

Ich warf einen kurzen Blick zu Lorelei, die noch geduldig auf meine Antwort wartete. Jemand, der sich 'nen Dreck um meine Magie schert. Stimmt ja, sie hatte von nichts gewusst und hatte trotzdem meine Hilfe gewollt. Vielleicht würde ich finden, was ich suchte, wenn ich ihr weiterhin folgte.

Ich zweifelte noch immer daran, dass das die richtige Entscheidung war. Aber die Antwort zu der Frage, ob ich bei ihnen bleiben möchte, fiel mir gar nicht schwer. Es war ein eindeutiges...

„Ja."

Der Strom des Lebens I [Gespaltene Welten]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt