Kapitel 33

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Lorelei

Dorean setzte sich neben mich, an den Rand des Plateaus. Sein Blick ruhte auf dem weiten Horizont, an dem die Sonne den Himmel in einem orangeroten Licht erleuchtete. Ich sah herunter zu der Brosche, die ich in den Händen hielt. Meine Finger zogen immer wieder die schnörkeligen Verzierungen nach, die in den Seiten eingraviert waren. Ich konnte einfach nicht begreifen, was an dieser Brosche besonders sein sollte. Stirnrunzelnd hob ich meinen Kopf und sah zu Dorean hoch.

An Jene ohne Mal. Möge Es euch für immer beistehen.

Wenn ich mich recht entsann, war das Mal, was man die besonderen Merkmale der magischen Wesen nannte. Ich dachte erst, dass wir Menschen gemeint waren, da wir kein Mal besaßen, aber jetzt, wo ich Dorean ansah, fragte ich mich, ob nicht vielleicht Leute wie er gemeint waren. Magische Wesen, die ihr Mal verloren haben. Doch was machte die Brosche überhaupt? Egal wie ich sie betrachtete, sie sah aus, wie eine gewöhnliche Brosche.

„Dorean", sagte ich langsam, „was bedeutet es, für ein magisches Wesen, sein Mal zu verlieren?"

Ich wollte keinesfalls, dass er sich verpflichtet fühlte, mir zu Antworten. Es war auch nicht meine Absicht gewesen, alte Wunden aufzureißen, aber ich musste irgendwann fragen und jetzt gerade, waren wir ganz unter uns. Dorean hob die Hand zu einer seiner Narben, bevor er mir antwortete.

„Das Mal is' die Verbindung zu unserer Magie. Wir leiten die Magie in unseren Körpern durch das Mal nach draußen. Ohne es, könn' wir sie nich' mehr erreichen."

Dann war das Mal wie eine Leine, an der sich die Magie aus dem Körper zog. Wird diese gekappt, bleibt die Magie im Körper gefangen.

Das bedeutete also, dass Dorean nicht mehr in der Lage war, seine Magie zu verwenden. Ich musste sagen, dass ich bisher nie darüber nachgedacht hatte, was das für ihn bedeuten könnte.

Ohne Magie, wäre Dorean dann nicht einfach ein Mensch? Es schien plötzlich, als würden wir uns doch nicht so stark voneinander unterscheiden. Jedoch hatte ich das Gefühl, dass ich das, einem magischen Wesen gegenüber, nicht erwähnen sollte. Sie könnten es als Beleidigung betrachten, auch wenn es nicht so gemeint war.

Ich musste mich an den Tag zurückerinnern, an dem ich Dorean das erste Mal begegnet war. Es war äußerst mutig von ihm gewesen, gegen die Drakonier zu kämpfen, doch nun bekam sein Mut eine ganz neue Bedeutung.

„Damals in Aphillia, was hast du dem Drakonier gesagt, damit sie die Stadt verlassen?"

Er seufzte und ließ seinen Kopf hängen. „Ich bin nich' stolz auf was ich da gesagt hab'."

Ich sah ihn entschlossen an, bis er endlich weitersprach. „Ich hab' gesagt, dass er verschwinden soll... bevor ich ihm seine Hörner ausreiße." Seine Stimme endete als leises wispern.

Ich schnappte nach Luft, doch bevor ich etwas dazu sagen konnte, sprach Dorean weiter. „Ich kann nich' glauben, dass ich das wirklich gesagt hab'."

„... Weil es das ist, was dir passiert ist?"

Er nickte. „Nich' viele würden's wirklich machen. 'Ne Drohung reicht normalerweise, weil niemand das Risiko eingehen würde."

„Dann ist es eine ziemlich große Sache für euch, euer Mal zu verlieren."

Dorean nickte erneut. „Es ist... das grausamste Todesurteil, was man sich vorstellen kann."

Todesurteil? Ich hatte mir schon gedacht, dass es äußerst schmerzhaft sein musste, aber es geradeheraus Todesurteil zu nennen? Es musste etwas geben, das ich übersehen hatte, ein Stück Information, das mir entfallen war. Aber was?

Der Strom des Lebens I [Gespaltene Welten]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt