Kapitel 32

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Dorean

„Was ist das erste, woran du dich erinnern kannst?" fragte Lorelei.

Ich lächelte leicht. Irgendwie hatte ich diese Frage schon erwartet. Es fiel mir zwar immer noch schwer, an diese Zeit zurück zu denken, aber irgendwo musste ich ja schließlich anfangen. Und nach all dem, was passiert war, würde ich nicht anfangen sie anzulügen, nur weil es weh tat, mich daran zu erinnern.

****** Dorean, 12 Jahre ******

Alles tat weh. Der Schmerz zog sich von meinem Kopf runter, bis in die Fußspitzen, einfach durch meinen ganzen Körper. Ich konnte mich kein bisschen bewegen. Als ich es endlich geschafft hatte meine Augen zu öffnen und mich umzusehen, sah ich einen fremden Mann neben mir, der zu mir runter sah.

„Ah, na endlich", sagte er in einer rauen Stimme, „du hast dir ja ganz schön viel Zeit gelassen, Kleiner."

Ich wusste nicht, was er damit meinte. Eigentlich wusste ich überhaupt nichts. In dem Moment hatte ich das aber einfach auf meine unheimlichen Kopfschmerzen geschoben. Der Mann nahm sich einen Stuhl, stellte ihn neben mein Bett und setzte sich. Mit einer zitternden Hand kämmte er sich seine schwarzgrauen Haare aus dem Gesicht.

„Hast mir 'nen richtigen Schrecken eingejagt."

Ich schaffte es meinen Mund einen Spalt zu öffnen, aber für den Rest fehlte mir die Kraft. Ich konnte ihm nicht antworten. Also sprach er weiter, aber er erzählte mir nur Zeug, das ich nicht verstand. Langsam, aber sicher, fielen mir die Augen wieder zu und ich schlief ein.

Als ich das nächste Mal aufwachte, fühlte ich mich ein wenig besser. Mein Körper, besonders mein Kopf, tat immer noch höllisch weh, aber ich konnte mich bewegen und schaffte es sogar mich langsam im Bett aufzusetzen. Der Mann brachte mir etwas zu Essen und zu Trinken und stellte sich, während ich das alles förmlich in mich aufsog, als Graham Vale vor.

„Also, wie heißt du, Kleiner?" fragte er mich. Ich öffnete automatisch den Mund, um zu antworten, aber hielt an, als ich merkte, dass ich es nicht wusste. Normalerweise wusste man sowas, oder?

„Ich weiß nich'", flüsterte ich, „ich weiß nich', ich weiß nich'." Die Tränen, die sich in meinen Augen gesammelt hatten, liefen über. Ich hatte jegliche Kontrolle darüber verloren. Bitterlich weinte ich in meine Hände. Erst als ich eine Hand auf meinem Kopf spürte, sah ich wieder auf. Graham sah traurig zu mir herunter.

„Schon okay", versuchte er mich zu trösten, „du musst dich nich' jetz' sofort erinnern. Das kommt von allein wieder."

****** Gegenwart ******

„Danach hab' ich angefangen mit ihm im Wald zu leben. Ich hatte immer gehofft mich irgendwann zu erinnern, aber es kam nie 'was wieder. Graham war's irgendwann leid mich ‚Kleiner' zu nenn' und hat mir 'nen neuen Namen gegeben", beendete ich.

„Dorean", bestätigte Lorelei.

Ich nickte. „Ja, er hat mir auch sein' Nachnamen gegeben. Er wurde meine Familie."

Sie lächelte und nickte zufrieden. „Ist Graham auch ein Drakonier?"

„Ne, 'n Fantom."

„Ein Fantom? Wie in, Geist?" rief Lucas von vorne. Seit wann hatten die denn zugehört?

„Was?" fragte ich verwirrt.

„Na, Geist. Ein Gespenst. Die Seelen von Toten, die nachts herumspuken und die Lebenden erschrecken", versuchte Lucas zu erklären. Ich hatte nur keinen blassen Schimmer, was er meinte. Das ergab keinen Sinn. Stirnrunzelnd sah ich die anderen an.

„Du weißt wirklich nicht, was Geister sind?" fragte Milo. Ich schüttelte den Kopf und bekam ein paar ungläubige Blicke zugeworfen.

„Anscheinend ist das ein Begriff, den nur wir Menschen verwenden", folgerte Lorelei.

„Aber was sind denn dann diese Fantome?" fragte Milo.

„Magische Wesen mit 'nem Löwenschwanz. Sie kreisen sich selbst mit Magie ein und werden dadurch unsichtbar. Das einzige, was man dann noch sehen kann, is'n Lichtschimmer, an der Schwanzspitze. Manche Leute nenn' sie auch Irrlichter, statt Fantome."

„Irrlichter?" fragte Cait und bekam sofort eine Erklärung von Lorelei.

„Verschiedenfarbige Lichter, die man scheinbar nachts in Wäldern oder Friedhöfen sehen kann."

„Geister sollen auch nur nachts spuken", sagte Lucas.

„Weil sie am Tag einfach nicht so leicht gesehen werden können", warf Cait ein.

Milo pfiff beeindruckt. „Das würde dann bedeuten, dass ein Geist das gleiche ist, wie ein Irrlicht, was ein anderes Wort für Fantom ist."

Witzig, wie das alles zusammenkam. Die Geschichten, die sich die Menschen so erzählten, konnten anscheinend alle irgendwie auf uns zurückgeführt werden.

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Gegen Abend hatten wir unser altes Lager erreicht, eine offene, gerade Steinplatte, von der aus man eine tolle Sicht auf das Land in der Ferne hatte. Man konnte sogar das Ende der Bergkette sehen. Morgen Nachmittag würden wir wieder im Tal sein, in Maera.

Das Lager war schnell aufgebaut, sodass bei Sonnenuntergang schon das Lagerfeuer brannte. Wir hatten jeder gerade etwas Zeit für sich.

Cait und Milo unterhielten sich über etwas aus ihrer Heimatsstadt.

Tressa hatte ein paar Zettel auf dem Boden ausgebreitet und betrachtete sie konzentriert.

Lucas war wieder, oder besser gesagt, immer noch am plappern und Mark sah stur von ihm weg. Er tat so, als würde er ihm nicht zuhören, aber wir wussten alle, dass er das tat.

Lorelei hatte sich, etwas abseits des Lagers, an den Rand des Plateaus gesetzt, um sich den Sonnenuntergang anzusehen. Komischerweise war ihr Blick jedoch die ganze Zeit nach unten gerichtet. Es sah so aus, als könnte sie etwas Gesellschaft vertragen.

Der Strom des Lebens I [Gespaltene Welten]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt