Ciel
„Wohin gehen wir eigentlich?" fragte ich, doch Vivi gab mir keine Antwort.
Wir gingen nun schon seit einer gefühlten Ewigkeit und ehrlich gesagt wurde es mir langsam unangenehm, die ganze Zeit Vivis Hand zu halten. Allerdings wäre ich sonst nicht in der Lage gewesen, ihr in der Dunkelheit zu folgen. Der Mond war nun permanent mit einer dicken Wolkenschicht bedeckt. Es war also noch dunkler als vorher. Solche Nächte waren selten, in Minuit jedenfalls.
„Ist das der Teil der Geschichte, indem du mich tief in den Wald führst und dann umbringst? Ich würde das Sterben nämlich gerne umgehen", scherzte ich, woraufhin wir abrupt anhielten.
„Wir gehen nicht in den Wald", sagte Vivi trocken und lief gleich weiter.
„Wirklich?! Das ist deine Antwort darauf? Du hast noch nicht einmal versucht zu leugnen, dass du mich umbringen willst."
„Das habe ich nicht, weil ich dachte, es wäre eindeutig, dass ich dich nicht tot sehen will."
„Oh." Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Ohne ein Wort, gingen wir weiter. Irgendwann versuchte ich nochmal sie zu fragen.
„Also, wenn wir nicht in den Wald gehen, wohin denn dann?"
Sie seufzte. „Ich bringe dich an den Ort, an dem ich dich gefunden habe. Danach bist du auf dich allein gestellt."
„Danke... Nochmals."
„Wir sollten jetzt da sein", sagte Vivi nachdenklich.
„Bist du dir da sicher? Tut mir leid, aber du hörst dich nicht besonders überzeugend an."
„Klar, weil ich mir auch unsicher bin und wenn du nicht zufällig im Dunkeln sehen kannst, finden wir es, vor dem Morgengrauen, auch nicht heraus. Ich kann allerdings schon den Fluss hören. Wir sollten nicht weit weg sein."
Sie ließ meine Hand los und plötzlich hatte ich Angst hier draußen allein zu sein.
„Warte", rief ich, „gehst du jetzt nach Hause?"
Einen Moment lang dachte ich, sie wäre schon gegangen, aber dann hörte ich ihre Stimme, nicht weit von mir entfernt.
„Nein." Ich hörte, wie sie sich auf den Boden setzte. „Ich glaube nicht, dass ich jetzt, in der Dunkelheit, den Weg zurück nach Hause finden würde."
„Oh, dem Himmel sei Dank", flüsterte ich mir erleichtert zu. Sie hatte mich wohl gehört, denn sie fing an zu kichern. „Schön, dass mein Elend dich belustigt", sagte ich und versuchte dabei so bitter wie möglich zu klingen.
„Oh nein", antwortete sie fix, „deswegen habe ich nicht gelacht. Es ist nur..." Für einen Moment blieb sie still und ich wartete, bis sie weitersprach. „Du hast dich gerade so... normal angehört."
Ich legte mich mit dem Rücken ins kalte Gras. „Normal... So hat man mich noch nie beschrieben. Ich wurde aber auch noch nie für einen Dämon gehalten."
„Was sagt man denn sonst zu dir?"
„Tja, meistens werde ich einen Farceur oder ähnliches genannt, jemand, der die Menschen, um sich herum, amüsiert. Mein Mentor nennt mich aber immer nur Sunny."
Vivi summte. „Hmm, Sunny gefällt mir. Was noch?"
„Naja", sagte ich zögernd. Sollte ich die alte Geschichte wirklich ausgraben? „Als ich klein war, bevor meine Mutter und ich nach Minuit gezogen sind, war ich in der Stadt, man könnte sagen, gut bekannt." Meine Stimme schwächelte, als ich mich den alten Erinnerungen verlor.
„Und was haben sie dich dort genannt?" Vivis Frage zog mich wieder in die Wirklichkeit.
Ich kniff meine Augen zusammen und bedeckte sie mit meinem Unterarm. Meine Stimme hatte sich komplett zu einem Flüstern reduziert.
„Den Streuner."
Danach blieben wir beide still. Es war nicht meine Absicht gewesen, auf einmal so ernst zu klingen. Anscheinend war ich, selbst nach all der Zeit, noch immer-
„Wie dreist. Was ist das für eine Stadt, in der man einfach Kinder beschimpft", unterbrach Vivi meine Gedanken. Es hörte sich so an, als meinte sie, was sie sagte. Ich konnte mir ihren ernsten Gesichtsausdruck sogar ganz gut ausmalen.
„Das weiß ich nicht mehr", antwortete ich, „Ich kann mich nicht an den Namen der Stadt erinnern. Dafür war ich noch zu klein. Das Einzige, an das ich mich erinnere, waren die vielen Blicke, die mir zugeworfen wurden. Es war mehr Mitleid als Hass, aber es tat trotzdem weh."
Ich sollte wirklich aufhören zu reden und das Thema wechseln, aber ich hasste es nur einen Teil einer Geschichte zu kennen. Deshalb wollte ich auch immer die ganze Geschichte erzählen. Ich hob mich in eine sitzende Position und nahm einen tiefen Atemzug.
„Ich habe meinen Vater nie kennengelernt. Laut meiner Mutter war er ein Händler und besaß einen Laden in der Stadt. Die beiden verliebten sich und begannen ein Leben zusammen aufzubauen, aber das war ihm anscheinend nicht genug. Er wollte ein reisender Händler sein und die Welt sehen. Also ging er fort und ließ meine Mutter allein zurück. Irgendwann bemerkte sie, dass sie mit mir schwanger war, doch sie hatte keine Möglichkeit meinen Vater zu kontaktieren. Also wartete sie darauf, dass er zurück nach Hause kam..."
„Aber er kam nie", beendete Vivi.
„Himmel", sagte ich in einem leichteren Ton, „das hört sich ja so an, als hätte ich ein grauenhaftes Leben. Es ist ganz anders. Ich habe Arbeit, Freunde, meine Mutter... Mein Leben in Minuit ist super. Deshalb möchte ich auch so schnell wie möglich zurück."
„Aber, wenn du so glücklich dort warst, warum bist du überhaupt weggegangen?"
Ich lachte erschöpft. „Das bin ich nicht."
Und dann erzählte ich ihr alles.
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Wir hatten uns nun schon eine ganze Weile unterhalten. Nachdem ich mit meiner Geschichte fertig gewesen war, fing Vivi an, sich mir ein wenig zu öffnen. Sie erzählte mir von ihrer Familie, der Farm und wie aufgeregt sie gewesen war, als sie mich gefunden hatte.
„Mein Leben ist eintönig", erzählte sie mir, „jeder von uns hat seine festen Aufgaben für jeden Tag der Woche, wir essen immer zu denselben Zeiten und schlafen von dann bis dann. Es ist immer dasselbe, tagein, tagaus. Deshalb habe ich die letzten zwei Tage sehr genossen. Es ist wieder etwas Farbe in mein Leben gekommen."
Es war schön zu hören, dass ich ihr nicht ausschließlich Probleme bereitet hatte.
„Oh", keuchte sie, „da fällt mir ein, dass wir uns noch gar nicht einander vorgestellt haben. Ich heiße Viviane Kallet, aber ich bevorzuge Vivi genannt zu werden."
Ich schmunzelte. „Bist du dir sicher, dass der Kerl, der dir gerade die Nacht ruiniert hat, dich mit deinem Spitznamen ansprechen soll?"
„Naja, die Nacht wurde nicht völlig ruiniert." Sie seufzte laut bevor sie weitersprach. „Du hast mir nur einen riesengroßen Schrecken eingejagt und mit den ganzen Gerüchten, die man zurzeit hört... Ich hatte nicht die Möglichkeit bedacht, dass du eine gute Person sein könntest, entschuldige. Jetzt weiß ich es besser."
Ich stieß den Atem aus, den ich gehalten hatte und lächelte in der Dunkelheit.
„Danke", antwortete ich erleichtert, „ah, und ich heiße Ciel Lauces. Mein Name kommt nicht mit einem Spitznamen, aber du kannst mich nennen wie du magst."
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Der Strom des Lebens I [Gespaltene Welten]
Fantastik"Wie aus dem Nichts, erschien die Magie in unserer Welt. Und mit ihr... kamen SIE." Lorelei ist die stolze Prinzessin des Königreichs Maera, welches gefüllt ist mit traumhaft schönen Landschaften und warmherzigen, liebenden Menschen. Doch der herrs...