Unglücksstrahl

91 12 3
                                    



Stelia war immer ein sehr fröhliches und nettes Mädchen. Sie war nie zu laut aber man konnte sie immer hören. Nie zu aufmerksamkeitserregend aber immer auffällig. Sie würde jedem verzeihen und nicht böse sein können. Eine Person aus dem Himmel, so würde sie Diabel bezeichnen. Manchmal war sie sogar ein wenig neidisch auf ihre Freundin – diese zog wirklich viele Leute mit ihrem Lächeln an sich.

Man könnte ihr nie böse sein, dachte das Mädchen am Anfang.

Nur hätte sie nie erwartet, dass nicht alle Menschen was Gutes in einem strahlenden Lächeln sahen. Es gab Leute, die es als eingebildet bezeichneten oder als besserwissend, sogar einschleimend. Und natürlich würden diese Leute versuchen, deutlich hinter ihrem Rücken zu reden, wieso hatte sie nie darauf geachtet? Worte waren öfter Mal schmerzhafter als Schläge, könnte man sagen. Aber Diabel stimmte nicht zu. Nur mit Taten konnte man in eine Person Furcht und Angst einprägen, so dachte sie. Und ihre Gedanken hatten sich nur an diesem einen Tag bestätigt.

Würde sie ein bisschen früher aus dem Haus gehen, würde sie es gar nicht bemerken. Sie würde nichts hören und nichts aus dem Augenwinkel sehen. Sie würde nicht merken, wie ein leises Wimmern aus der einen Spalte zwischen den Felsen kam, sie würde nicht dahin gehen, um nachzuschauen, ob da was wäre und sie würde nicht diese Szene mit ihren eigenen Augen miterleben. Sie würde nicht erblicken, wie drei Mädchen, älter und stärker als sie, ohne einen Gedanken im Hinterkopf, fast schon mit Geschmack und Freude auf eine kleine, zusammengekauerte Figur, die auf dem Boden lag, eintraten. Diese kleine Figur, fast unbemerkbar, fast lautlos, versuchte vergeblich mit ihren Händen ihren Kopf zu schützen, während sie unkontrolliert schluchzte. Und wären es nicht diese Haare, die die Farbe der Sonne hatten, so würde sie nie Stelia erkennen.

Wenn man Diabel fragen würde, was an diesem Tag passiert sei, würde sie einem nichts davon erzählen können. Sie würde sich nicht erinnern. Sie würde nicht sagen können, wieso unter ihren Fingernägeln Blut war oder wieso ein Haarknäul sich in ihrer rechten Hand befand. Sie könnte auch den Schrecken und Schmerz nicht beschreiben. Und auch Stelia würde nichts sagen. Sie würde nur weinen und weinen und Diabel um Hilfe bitten. Und Diabel würde „Ja" sagen. Und sie würde versprechen, Stelia nie wieder im Stich zu lassen. Sie würde versprechen, sie immer zu beschützen. Weil sie Stelia lieb hatte. Weil sie Stelia nicht alleine lassen konnte. Weil Stelia ihre beste Freundin war.

Diabel atmete aus, machte die Tür von ihrem Zimmer auf und merkte, dass niemand dort war. Die graue Trainingsuniform klebte unangenehm an ihrem Körper und sie wollte nur schneller ins Bad.

Früh genug hatte sie erfahren, wozu die Türen auf der gegenüberliegenden Seite der Balkons waren. Es waren zum Teil Lehrräume, sowie Bäder und offene Bäder. Noch nie hatte Diabel von solchen gehört aber ein Besuch dahin war es wert. Es waren praktisch heiße Quellen. Getrennt zwischen Jungs und Mädchen, in kleinen Steingruben, waren diese Quellen immer warm, im Winter sogar heiß, unglaublich erholend und heilend. Als Diabel die eigenartige, weiße Farbe des Wassers als Milch empfand, verstand sie später, dass diese Quellen kleine Wunden und blaue Flecken heilen konnten. Das Wasser hinterließ keine Spuren auf dem Körper oder in den Haaren und roch leicht süßlich. Man konnte eine leichte spirituelle Kraft spüren, die von diesen Quellen ausging. Die Professoren erzählten ihr, wie sie wahrscheinlich aus de Inneren des Berges kamen. 

Bei solchen Gedanken hatte sie schon wieder den Drang dahinzugehen.

Wieso auch nicht? Es wird langsam immer kälter und ich habe heute viel Zeit, ich kann mich auch entspannen.

Sie griff nach ihrem Tuch und einem grauen Bademantel und verzog ihr Gesicht. Oh Himmel, wie sie diese Farbe hasste. Alles war grau an dieser Akademie: Himmel, Gebäude, Felsen, Kleidung. Es machte alles monoton und raubte einem die Motivation für irgendwas. Nein, langsam machte es sie schon aggressiv. Diese Farbe dämmte alles – Sicht, Laute, Gefühle. Es war meistens kalt und feucht hier, der Nebel bedeckte alles und man konnte an manchen Tagen nicht mal weiter als eine Armlänge sehen. Der Nebel an solch einem Tag war genauso – dicht, bedrückend und schwer. Es war kein Nebel, der nach dem Regen auftauchen könnte – dieser war anders. Diabel fragte sich immer wieder, wieso die Leute eine Akademie an so einem Ort einrichten würden aber niemand würde ihr antworten können.

Diabel öffnete die Tür am Ende des Flurs und ging die Treppen im Dunkeln nach unten, bis sie an einer Öffnung zwischen den Felsen landete. Hier war der Nebel nicht so dicht und sie konnte den Dampf hinter den großen Steinen erkennen. Als sie abbog, sah sie das große Becken, voll mit weißer Flüssigkeit. Es dampfte und schäumte sich leicht neben den kleinen Wasserfällen auf. Abgesehen von ihr waren noch ein paar Mädchen an den äußeren Rändern des Beckens aufgeteilt. Sie selber ging zu einem Stein, mit glatter Oberfläche, wo man meistens ein paar Sachen ablegen konnte.

Schon wieder habe ich vergessen, mich im Zimmer umzuziehen.

Sie lächelte über ihre eigene Vergesslichkeit und zog die Uniform aus. Als sie die Hose weglegte schaute sie zum tausendsten Mal auf ihren rechten Oberschenkel. Die Haut dort war noch immer rötlich aber nicht mehr gereizt und es tat nicht mehr so stark weh. Es war ein relativ dicker Narbenring genau in der Mitte des Gliedes. Man konnte nur schwer die Struktur erkennen – niemand aus ihrem Zimmer hat noch verstanden, dass es eine Spur von einer heißen Kette war.

Diabel wurde übel und nach töten zumute, als sie an diesen Tag dachte.

Es war ein normaler Trainingstag mit einem ihrer Klassenkammerraden. Er war nie wirklich aggressiv oder eingebildet, weder unfreundlich. Nie hätte Diabel gedacht, dass dieser eigentlich ziemlich netter Junge, wegen einer wichtigen Note alles machen würde. Sie wusste noch immer nicht, auf wen sie genau wütend sein sollte – auf den Professor, der dies vorgeschlagen hatte oder auf diesen Jungen, der dank seiner Magie die Waffe so stark erhitzte, dass das Metall nicht nur ihre Hose durchbrannte, sondern auch ihre Haut angeschmolzen war. Sie wusste auch nicht, was schlimmer war – die Tatsache, dass der Junge sich nie entschuldigt hatte oder die Worte des Professors. Als sie versuchte ihm zu erklären, dass Magie außer Regeln sei, sagte der alte Mann kalt:

„Im Krieg würde dich niemand nach deiner Meinung fragen. Sie würden dich einfach angreifen und es wäre vielleicht nicht mal das Bein, worauf sie zielen würden. Durchgefallen."

Auf Narben konnte man stolz sein. Diabel hasste ihre. Ihre erste Narbe kam durch solche beschämende Zustände. Und man konnte es auch nicht wegbekommen. Dieses Brandmal für ihre Naivität stehen und sie immer daran erinnern.

Diabel atmete aus und setzte sich langsam ins Wasser. Sofort spürte sie den leichten, süßen Geruch und die warme Konsistenz um ihren Körper. Wie schwer es war, sich zu erinnern, als sie das zweite Mal hier war. Genau wegen dieser Verletzung. Als sie mit Tränen in den Augen und leichten Aufschreien sich ins warme – für sie da noch brodelnd heiße – Wasser setzte und nach Stunden mit Bedauern und noch mehr Tränen feststellen musste, dass das Wasser fast nichts an ihrer Wunder geheilt hatte. Sie hatte keine Heilmittel bei sich und nicht die Kraft ins Hauptgebäude zu gehen. Diabel wollte auch niemanden aus ihrem Zimmer fragen – sie war damals nicht nah genug zu ihnen, um nach sowas zu bitten. Es waren unzählige Tage und Nächte, wo sie versuchte leise zu bleiben und die brennende, gereizte und angeschwollene Haut zu kühlen, was ihr aber nur noch mehr Schmerzen bereitete. Sie merkte gar nicht, dass sie in dieser Zeit Fieber bekam. Die Hitze am Bein vermischte sich mit der ganzen Hitze am Körper. Sogar Feuer war nicht so heiß, dachte das Mädchen. Aber nie hatte sie es sich erlaubt, nur eine Stunde zu verpassen.

Wenn sie darüber so nachdachte – sie erinnerte sich fast gar nicht, was sie in dieser Zeit durchgegangen ist. Sie erinnerte sich nicht, wie sie das alles geschafft hatte.



Silver Heart and Grey WingsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt