Kapitel 16

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In der Nacht – ich hatte wohl doch geschlafen – wurde ich durch ein Geräusch wach. Etwas klopfte an mein Fenster. Das konnte doch aber gar nicht sein! Mein Zimmer lag im 2. Stock und es gab keinen Balkon oder ähnliches davor. Auch das Sims war zu schmal um darauf zu stehen.

Ich rieb mir den Schlaf aus den Augen und trat ans Fenster, an dem das Geräusch unaufhörlich zu vernehmen war. Ich öffnete es und sah nichts Weltbewegendes. Einzig eine dürre Rosenranke schien vom Wind immer wieder gegen das Fenster gedrückt worden zu sein. Woher kam die denn? War die Rose über Nacht wieder gigantisch gewachsen? Ich sah nach unten. Kein überdimensionales Wachstum erkennbar. Nur diese dürre Ranke. Ich wollte das Fenster wieder schließen und griff nach dem Riegel, als sich die Rosenranke mit ihren Stacheln schmerzhaft in meine Hand bohrte und in sekundenschnelle meinen Arm umrankte.

Als ob sie Energie aus mir ziehen würde, verlor ich in rasantem Tempo an Körperkraft, während die Ranke an Kraft gewann und dicker wurde. Ich bemühte  mich in meiner Panik ruhig zu bleiben, da fiel mein Blick auf die Rosen unten, die dynamisch zu mir herauf wuchsen. Ich rief nach Hilfe und die Rose schoss eine dicke Blüte direkt in meinen Mund, sodann angelte sie sich meinen zweiten Arm. Ich war ihr hoffnungslos ausgeliefert.

Mehr und mehr Ranken krochen durch das Fenster ins Zimmer. Umfassten nach und nach meinen ganzen Körper und trugen ihn zum Bett. Vorsichtig ließen sie mich ab. Innerhalb weniger Minuten war das ganze Zimmer von Rosenranken bevölkert, Blüten verbreiteten einen benebelnden Duft. Ich kam mir vor wie Dornröschen. Die Ranken fesselten mich nach wie vor ans Bett, aber ohne mich in irgendeiner Weise zu schädigen. Sie begannen mich sanft in den Schlaf zu wiegen, während mich der Rosenduft in eine andere Sphäre brachte.

„Wo bin ich?", fragte ich.

„Im Herz der Rose. Du bist unsere Königin", wisperte eine Stimme, die klang, als wäre sie aus tausenden einzelnen Stimmen zusammengesetzt.

„Das heißt, ich werde sterben?", erkundigte ich mich.

„Nein, wir werden dich am Leben erhalten, so lange wir leben. Wir werden dich beschützen. Hier will man dir nur Schlechtes. Der eine will dich töten, der andere dich uns wegnehmen. Das können wir nicht zulassen. Wir lieben dich."

„Ihr lieben Rosen. Das ist sehr nett von euch. Ihr wisst schon, dass ich nicht derselben Spezies angehöre wie ihr? Wollt ihr nicht lieber jemanden aus eurer Gattung zur Königin haben?" Ich musste zugeben, dass dieses Argument sehr flach war.

„Seit wir existieren wählen wir eine andere Spezies zu unserer Königin oder unserem König. Das wird immer so bleiben."

„Hmm. Und darf ich fragen, woher ihr kommt? Ich habe in unseren Breitengraden noch nie einen solchen Rosenstaat wie euch getroffen." Ich war hin und hergerissen. Einerseits wollte ich mich gerne befreien, andererseits wollte ich auch genau wissen was hier gerade abging.

„Die Fisch-Männer haben uns ausgesät." 

„Die Fisch-Männer?" Ich war irritiert. Fisch-Männer? Das wurde ja immer besser! Zudem bekam ich fürchterliche – ja, genau - Kopfschmerzen.

„Du kannst dich nicht erinnern. Wir werden dir helfen und dein Gedächtnis zurück bringen. Du wirst wieder alles verstehen. Schlaf." Der Rosenduft im Zimmer intensivierte sich und ich versank mit ziemlich wirren Träumen in einem tiefen, erholsamen Schlaf.

Als ich erholt aufwachte, erinnerte ich mich an alles. Die Träume, die ich gehabt hatte, waren keine Träume, sie waren mein Leben. Die Flohmarktscheune, eine – meine – pinke Tardis, Marcus, Abenteuer in fernen Galaxien.

In meinen Gedanken wandte ich mich wieder an die Rosen: „Ihr lieben Rosen, ihr habt mir ein sehr großzügiges Geschenk gemacht. Ich muss euch danken."

„Für unsere Königin tun wir alles." Es klang, als würden sie sich vor mir verneigen.

„Was kann ich denn für euch tun?", fragte ich die Rosen.

„Unsere Königin sein."

„Und einfach nur herumliegen?", hakte ich nach.

„Das ist meistens so."

„Meistens? Das heißt also, es gibt auch etwas anderes als herumliegen? Was wünscht ihr euch denn?" Für den Rest meines langen Lebens nur herumliegen war für mich keine Option.

„Wir würden gerne nach Hause, zum Rest unserer Familie." Die Stimme wurde leise und sehr traurig. „Doch das ist leider utopisch. Die Fisch-Männer wollten, dass wir dir Böses tun. Aber wir können nicht, denn du verdienst es nicht bestraft zu werden." Die Ranken wurden unruhig. Ich spürte es an meinem Körper. „Wir müssen jetzt aufpassen. Jemand kommt."

Auch wenn ich auf dem Bett lag, als würde ich schlafen und meine Lider nicht heben, geschweige denn sprechen konnte, ich spürte genau, was im Raum vor sich ging. Marius war an der Tür und wollte mich zum Frühstück abholen. Bestimmt war er skeptisch, als niemand antwortete und nur das leise Rascheln von Blättern zu hören war. Er öffnete die Tür. Ich konnte sein verdutztes Gesicht beinahe sehen.

„Was zur Hölle ist das?" Sein Blick fiel auf die im ganzen Zimmer verbreiteten Rosenranken. Sein Blick fiel auf mich, gefesselt ans Bett. Die Rosen waren skeptisch, was passieren würde, und warteten ab. Vorsichtig balancierte Marius durch die Ranken zu mir.

„Ronna? Hörst du mich? Was ist passiert?"

Ich konnte nicht antworten. Er strich über meinen Arm und fühlte meinen Puls.

„Gut, du lebst." Er kontrollierte meinen Atem. „Sehr gut." Dann begann er die Ranken an mir zu betasten, zuerst vorsichtig. Doch als er sie nicht lösen konnte, begann er daran zu zerren. Die Rosen erwachten zum Leben und attackierten ihn. Peitschende Ranken kamen aus allen Richtungen und jagten ihre spitzen Dornen in seinen Körper.

„Aufhören!", befahl ich den Rosen in Gedanken. Sofort verharrten sie in ihren Positionen.

„Er ist ein Freund und will uns nichts Böses. Er liebt mich genauso wie ihr."

„Er will dich uns nehmen!" Ich spürte ihren kochenden Zorn.

„Das will er nicht. Er kennt euch nicht und denkt, dass ihr mich töten wollt. Das einzige, was er will, ist mich befreien."

Die Rosen schwiegen und dachten nach.

„Ihr lieben Rosen. Wollt ihr immer noch nach Hause?"

„Ja."

„Dann lasst uns ein Bündnis eingehen. Ich als eure Königin, werde euch nach Hause bringen. Ich verspreche es. Ich habe die Möglichkeiten dazu. Aber ich brauch eure Hilfe und die des Menschen, der gerade ins Zimmer gekommen ist. Seid ihr einverstanden?"

Die Rosen überlegten, aber nicht lange: „Du sagst die Wahrheit. Dein Versprechen ist echt. Du hast die Möglichkeit. Wir haben es in deinen Erinnerungen gesehen.  Die Fisch-Männer sind böse. Wir gehen das Bündnis ein, Königin. Was sollen wir tun?"

„Umrankt ihn und gebt ihm sein Gedächtnis wieder." Das war das einzig Richtige.

Die Rosen beförderten ihn in einen Schlaf und legten ihn neben mir im Bett ab. Alsdann begannen sie ihr Werk bei ihm und förderten zu Tage, was andere uns genommen hatten.

The Doctoress - Roses (6/Special)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt