Living next door to Janne (Rezo)

Gespräche

Schon seit dem Beginn von WoodenWorld machte sich Johanna bei den Uploads der Aufnahmen von der Herstellung die Arbeit, Jannes Gesang herauszuschneiden und die Bilder mit anderer Musik zu unterlegen. Janne benutzte keine Lärmkopfhörer mehr, seitdem es Kopfhörer mit Noise Canceling gab, mit denen sie beim Arbeiten Musik hören konnte. Nur kam damit die Gewohnheit, bei der Musik mitzusingen und wenn Janne völlig vertieft war, vergaß sie gerne mal die Kamera. So hatte Johanna über die Jahre einige Aufnahmen mit Gesang angesammelt. Sie löschte die Abschnitte nicht, weil sie die Stimme ihrer besten Freundin mochte und ihr gerne beim Singen zuhörte. Das ging so weit, dass sie einen Ordner erstellt hatte, in dem sich die Ausschnitte mit Jannes Gesang befinden.

Janne wusste davon und hatte in den letzten Tagen viel darüber nachgedacht. Ihr Gesicht und ihr Name waren jetzt sowieso schon auf YouTube und irgendwann würde irgendein ein Kommentar doch darauf kommen, sie die Person am Ende der WoodenWorld Videos war. Und sie wollte nicht, dass ihr Geheimnis so gelüftet wurde. Sie wollte selbst bestimmen, wann es die Zuschauer herausfanden. Aber sie war noch nicht bereit dazu, alles zu verraten. Also würden die Zuschauer zuerst durch ihre Stimme darauf aufmerksam werden, dass sie eine Frau war. Deswegen rief Janne ihre beste Freundin an, um ihr mitzuteilen, dass sie die Gesangsstellen zusammenschneiden und auf YouTube hochladen durfte. Es wäre der erste Schritt von vielen.

Johanna war wieder einmal überrascht von Janne. Die Bühnenbildnerin schien sich gerade mehr zu verändern, als sie es je getan hatte. Jedoch waren diese Veränderungen nichts schlechtes. Janne wurde wieder aufgeschlossener, wieder mehr zu dem Menschen, der sie vor dem Jahr in den Staaten war. Und das machte Jojo glücklich. Es war schön, ihre beste Freundin so zu sehen. Und der Anruf passte zu der Entwicklung. Sie hatten früher häufig versucht, Janne auf die Bühne zu bringen, damit sie ihr Talent mit anderen teilte. Nur wollte sie lieber im Schatten bleiben, anderen das Rampenlicht überlassen und dafür sorgen, dass alles an deren Auftritten perfekt wurde. Singen war nur ein Hobby, das ihr beim Konzentrieren half und bei dem sie ihre Gefühle herauslassen konnte. Janne gewährte den Zuschauern einen großen Einblick in ihre Privatsphäre, machte ihnen mit dem Video gewissermaßen ein Geschenk. Es war also nur sinnvoll, es an Heiligabend hochzuladen.

In den Wochen bis dahin sortierte Janne ihre Wohnung noch einmal so, wie sie es für richtig hielt und baute ihr System so auf, wie es sich für sie gehörte. Nachdem sie damit fertig war, stürzte sie sich wieder in die Arbeit. Im Juni standen zwei Premieren an, für die sie die Baupläne der Kulissen fertigstellen und dann mit den jeweiligen Werkstätten besprechen musste. Die neue Umgebung half ihr sehr bei der Arbeit. Es war wesentlich ruhiger und sie konnte besser schlafen, weil sie dabei nicht mehr von der Arbeit umgeben war. Im Gegenzug war sie auch beim Arbeiten konzentrierter, weil das Bett nicht mehr im gleichen Raum stand.

Und ihr Plattenspieler war endlich wieder in Benutzung, weil es keine Nachbarn mehr gab, die lauter waren und es unmöglich machten, die Musik wirklich zu genießen. Rezo unter ihr war eher leise und die restlichen Nachbarn waren zum Großteil Rentner, die jetzt auch nicht jeden Tag Freunde da hatten, Videos drehten und Partys feierten.

Als Janne am Mittwoch nach dem dritten Advent voll beladen vor der Haustür stand und versuchte, diese zu öffnen, kam Rezo ihr wieder einmal zu Hilfe und nutzte dazu den exakt gleichen Satz wie im Supermarkt Monate zuvor. ,,Wäre gut, Timmy hielt es für eine gute Idee, mir alle Ideen für weihnachtliche Cupcakes zum Testen mitzugeben und hat dabei vergessen, dass ich schon einen riesigen Rucksack tragen muss." Rezo schloss die Tür auf, ließ sie eintreten und folgte ihr dann. Janne beschloss die Initiative zu ergreifen: ,,Timmy ist der Bruder mit dem veganen Café. Heißt, du könntest die Cupcakes essen. Allein schaffe ich das niemals." ,,Wenn das ein Angebot ist, kostenlos leckere Dinge zu essen, lehne ich das nicht ab." Sie gingen die Treppe bis zu Jannes Wohnung hoch, damit sie den Rucksack loswerden konnte. Rezo schloss auch hier die Tür auf, wodurch Janne nichts ablegen musste. Die Bühnenbildnerin stellte den Rucksack im Arbeitszimmer ab und setzte sich dann mit ihrem Nachbarn an den Küchentisch, um die Cupcakes zu essen.

Während sie das Gebäck verkosteten und dabei ein Ranking aufstellten, kamen sie über ihre Familien ins Gespräch. Rezo hatte nur eine Schwester und kannte das Leben in einer Großfamilie nicht, so wie es Janne mit ihren vier Brüdern gewohnt war. Beim Einräumen der Wohnung hatte sich der Musiker schon gedacht, dass Janne mit Geschwistern aufgewachsen war. Es gab eine Menge Fotos, auf denen ein Paar mit fünf Kindern und Jugendlichen zu sehen war. Janne sah allen irgendwie ähnlich und dann ließ es sich auf Mutter und Vater mit jeweils zwei Söhnen aufspalten. Sie waren eine Lehrbuch-Patchwork-Familie. Jedes Elternteil hatte zwei Söhne in die Ehe gebracht und dann gab es noch ein gemeinsames Kind, welches Janne war. Ihre Eltern hatten sich über die gleichaltrigen Söhne Lian und Timothy kennengelernt, die befreundet waren und sich, während ihre Kinder miteinander spielten, ineinander verliebt. Nach drei Jahren kam die Hochzeit und nach vier Jahren Janne.

Nachdem sie ein endgültiges Ranking beschlossen hatten und Janne dieses an Timothy weiterleitete, verabschiedete sich Rezo und ging die Treppe hinunter zu seiner Wohnung. Er hatte tatsächlich zwei Stunden mit Gesprächen und Cupcakes kosten verbracht und dabei komplett die Zeit vergessen. Janne hatte zwar den Großteil der Unterhaltung geführt, aber sobald er von seinen Eltern und seiner Schwester erzählte, hatte sie geschwiegen und ihm einfach nur zugehört, höchstens zum Nachfragen unterbrochen. Er mochte diese Art Gespräch: Man hörte sich einander zu, stellte Fragen und lernte einfach mehr über das Gegenüber. Rezo hoffte, dass noch einige mit Janne folgen würden.