,,Warum weinst du?"

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Endlich geht es hier auch mal weiter. Ich hoffe, dass es in den nächsten Monaten wieder häufiger der Fall sein wird (Semesterferien sei Dank). Die Beschreibungen in der Oper entsprechen teilweise meinen eigenen Erfahrungen, weil ich selbst großer Ballett-Fan bin. Ich wünsche euch sehr viel Spaß mit dem neuen Kapitel!


,,Hi Rezo, wie spontan bist du so?" ,,Auf einer Skala von 1 bis 10? 'Ne neun würde ich sagen." ,,Okay, würdest du dann heute Abend mit mir in Wuppertal ins Ballett gehen? Es ist auch kein klassisches drei Stunden Stück. 90 Minuten und ziemlich modern. Ich hab' die Karten schon vor Monaten besorgt und jetzt hat Jojo kurzfristig abgesagt. Meine Eltern sind auf einem Geschäftsessen, meine Freunde können alle nicht oder haben schon Karten und meine Brüder sind auch nicht da." ,,Ich hab' doch noch gar nicht abgelehnt." ,,Oh." ,,Was muss ich anziehen?" ,,Einfarbige Hose - ohne Löcher! - und ein Hemd reichen schon. Die Abendkleidung - Zeiten in der Oper sind schon länger vorbei." ,,Gut, wann geht's los?" ,,19.30 Uhr, ich bin gerne 15 Minuten früher da, also sollten wir so 17.30 Uhr losfahren." ,,Geht klar. Bis später dann!" Janne verabschiedete sich ebenfalls und ging die Treppe wieder nach oben in ihre Wohnung. Rezo konnte nicht glauben, dass er tatsächlich zugesagt hatte. Er bei einer Ballettaufführung war eine Vorstellung, die er so nicht von sich im Kopf hatte. Jedoch wollte er gerne Neues ausprobieren, Unbekanntes sehen und für heute Abend war bisher entspanntes Zusammensitzen mit TJ, Ju, Anni und Co geplant, die es ihm wahrscheinlich nicht übel nahmen, wenn er absagte, sobald er ihnen den Grund dafür nannte.

Punkt halb sechs stand Janne dann vor seiner Tür, mit dem Autoschlüssel in der einen und hohen Schuhen in der anderen Hand. Sie trug ein langärmeliges, dunkelrotes Kleid, das sich von ihren Alltagssachen so dermaßen unterschied, dass Rezo zweimal hinschauen musste, um sicherzugehen, dass es auch wirklich seine Nachbarin war. Janne wirkte wie ein anderer Mensch und war trotzdem noch sie selbst. Ihr neuer Freundeskreis kannte die Opern-Janne nur noch nicht, hatte sie noch nie in diesem Teil ihres Lebens erlebt und Rezo war durchaus privilegiert, dass er jenen heute betreten durfte. Ihr Kollegenkreis war wählerisch, was neue Freunde anging und begabt darin neue Bekanntschaften der anderen erst einmal abzuschrecken. Janne war sehr gespannt darauf, wie sie auf ihren blauhaarigen Nachbarn reagieren würden, der diesem Kosmos kaum ferner sein könnte.

,,Würdest du auf dem Rückweg fahren? Ich hab' die schlechte Angewohnheit auf Premierenfeiern Alkohol zu trinken. Also, wenn du nicht willst, verzichte ich drauf, kein Problem." Rezo schüttelte innerlich mit dem Kopf. Immer wenn Janne nervös war und ihn um etwas bitten wollte, begann sie sehr schnell zu reden und dabei Schlüsse zu ziehen, obwohl er noch gar nicht geantwortet hatte. Er trank sowieso keinen Alkohol, also würde er das Fahren problemlos übernehmen, damit Janne ihre Routine behalten konnte.

Obwohl Rezo in Wuppertal aufgewachsen war, hatte er noch nie das dortige Tanztheater gesehen. Mit der Schule waren sie nur bei Opernaufführungen von Märchen gewesen. Als er das Janne erklärte, konnte sie es zu Beginn gar nicht glauben. Wie konnte man mehr als sein halbes Leben in Wuppertal verbringen, ohne einmal das berühmte Tanztheater Pina Bausch gesehen zu haben? Gut, wenn man nicht schon früh mit Ballett in Kontakt kam, war der spätere Zugang schwierig und es brauchte jemanden, der einen mitnahm, aber das tat sie heute ja. Auf dem Parkplatz angekommen, wechselte Janne zuerst einmal ihre Schuhe. Sie war nicht mit den High Heels gefahren, weil sie beim Fahren mit ihnen keinen ordentlichen Halt hatte und das Risiko nicht eingehen wollte.

Kaum durch die Tür der Oper getreten, wurde Janne schon von jemandem angesprochen. Die Unterhaltung hielt nicht lange an, weil das Stück in Kürze beginnen sollte und sie noch zur Garderobe und zu ihren Plätzen mussten. Es verdeutlichte Rezo aber jetzt schon, dass das hier Jannes Welt war, so wie YouTube in den letzten Jahren zu seiner geworden war. Sie gaben also ihre Jacken ab und zeigten ihre Karten vor Eingang A, durch welchen sie dann hindurch traten. ,,Was machen wir hinter der Bühne?", fragte Rezo verunsichert, der eigentlich damit gerechnet hatte sich jetzt durch enge Sitzreihen zu drängen, nun aber an Garderoben der Künstler vorbei lief. ,,Die Oper setzt gerade das Konzept Raumbühne um, wodurch man näher an den Künstlern sein kann als je zuvor", erklärte ihm Janne. Als sie durch eine weitere Tür traten, verstand Rezo was gemeint war. Um die Bühne war ein Gerüst aufgebaut, man saß praktisch auf ihr. Sie gingen eine Treppe nach oben, weil unten keine Plätze mehr frei waren und saßen dann direkt am Gerüst mit idealen Blick auf die Tänzer, die gerade noch im ganzen Raum verteilt waren. Einen Augenblick später folgte ein lauter Knall und alles setzte sich in Gang. Das Stück hatte offiziell begonnen. Alle Augen waren auf die Bühne unter ihnen gerichtet. Man konnte sich dem Sog der Musik nicht entziehen.

Mitten im Stück wagte Rezo einen Blick auf Janne neben ihm. Sie war wie gebannt, schaute auf die Drehbühne und sah einfach nur zu. Aber man konnte auch nicht anders. Was die beiden Tänzerinnen da auf die Bühne zauberten, war einfach nur magisch. Dann sah er die Tränen auf Jannes Wangen. Rezo beugte sich zu ihr, stupste sie an und flüsterte: ,,Warum weinst du?" ,,Weil es so schön ist." Das war die außergewöhnlichste Begründung, die er je für Weinen gehört hatte.

Die meisten Menschen weinen, weil etwas traurig ist oder vor Freude, einfach, wenn sie von etwas berührt sind. Aber weil etwas schön ist? Er sollte sich wieder auf die Tänzer konzentrieren. Was er bisher gesehen hatte, begeisterte ihn und forderte immer wieder seine Aufmerksamkeit. Er musste einfach weiter zusehen. Und langsam glaubte er zu verstehen, was Janne meinte. Die beiden Tänzerinnen beschrieben das Gefühl, das er vor der Pause seines Hauptkanals so oft mit dem Musikmachen verband; die Suche nach Inspiration und wie er erst durch eine Pause die Leidenschaft wiederfand. Und es war auch einfach wunderschön; diese Symbiose aus Musik und Bewegung, die einem im tiefsten Inneren berührte.

Wenige Minuten später mussten sie sich das Lachen verkneifen, weil die Bewegungen der Tänzer und auch die Musik so untypisch für alles waren, das man sich unter Ballett und einem Opernhaus vorstellte. Im totalen Gegensatz zu einigen Momenten zuvor war die Musik jetzt schnell und extrem rhythmisch, aber nicht weniger durchdringend. Sie hatten jegliches Zeitgefühl verloren. Das Stück sollte 90 Minuten dauern und niemand wusste, wie viele davon schon vergangen waren. Der Raum und die Bühne sogen einen einfach ein, ließen nicht los. So war es wie das Aufwachen aus einem schönen Traum, als alles um sie herum aufstand und laut applaudierte. Auch Rezo und Janne wurden von ihren Füßen gerissen und machten ihrer Begeisterung lautstark Ausdruck. Der Applaus dauerte mehrere Minuten an, bis sich die Tänzer von der Bühne verabschiedeten und die Zuschauer den Raum verließen. Jedoch war der Abend noch lange nicht vorbei, im Operncafé sollte es weitergehen, so wie es sich nach einer guten Premiere gehörte. 

Living next door to Janne (Rezo)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt