Chapter 4

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Als ich aufwache, ist es 14 Uhr. Sonntag. Tag der Hausaufgaben und Tag des Gammelns.

Gestern hat mir der Junge, bevor wir die Karaokebar verlassen haben, mir etwas in die Hand gedrückt. Vom Fühlen aus habe ich erkannt, dass es ein Zettel ist. Dort steht bestimmt was drauf.

Klar steht da was drauf! Wer drückt dir schon einen leeren Zettel in die Hand?

Leider kann ich es nicht lesen... Blindheit nervt.

Ich könnte es einfach Judy oder meinem Vater zeigen, aber die würden mir nicht mal im Leben erlauben Kontakt mit einem Jungen zu haben.

Dann frag ich morgen Ally, meine beste Freundin.

*****

Der Wecker klingelt und ich wache abrupt auf und machen mich frisch wie jeden morgen. Ich habe mir letzte Nacht noch irgendwas aus dem Kleiderschrank gekramt. Später kommt Ally zu mir und schaut sich das Gesamtpaket an. Sie hilft mir gut auszusehen. Dafür bin ich ihr dankbar. Nee, erlich! Sonst würde ich wie eine Mülltonne rumlaufen.

,,Was hast du denn da an?" ,fragt sie mich etwas verblüfft.

,,Keine Ahnung?" ,frage ich erwas iritiert.

,,Ich hol dir was neues raus... Hmm." ,murmelt sie, während sie mein Kleiderschrank plündert, ,,Perfekt."

,,Hilf mir rein." ,fordere ich sie heraus.

,,Oki, doki." ,murmelt sie, ,,Bein hoch."

Ich hebe mein rechtes Bein hoch.

,,Jetzt das Linke."

So geht das weiter, bis ich endlich alles ausgezogen und angezogen habe.

,,Nur noch Haare. Nur glätten und schminken." ,sagt sie.

Ich nicke.

*****

,,Ich schwöre, Ally. Wenn du nicht wärst, würde ich wie eine Mülltonne aussehen. Na ja, ich kann zwar nicht sehen, wie ich jetzt aussehe, aber ich vertrau' dir." ,quieke ich und laufe mit ihr zur Schule.

,,Ich weiß doch. Dafür sind doch beste Freundinnen da." ,antwortet sie mit guter Laune in der Stimme, ,,Und wie war dein Wochenende?"

,,Ja, wie immer. Wir waren in der Karaokebar und - Oh mein Gott, Ally!" ,quieke ich, als mir der Junge und sein Zettel einfallen.

,,Was ist los?!" ,fragt sie nervös.

,,Da war so ein Junge, okay. Wir haben zusammen gesungen!" ,antworte ich quiekend.

,,Nein! Oh mein Gott! Lynn! Ist das geil!" ,quickt sie ebenfalls.

,,Und er hat mir was in die Hand gedrückt." ,sage ich auch krame in meine Jackentasche herum. Als ich etwas Zettelartiges fühle, ziehe ich es heraus und zeige es Ally.

,,Was steht da drauf?" ,frage ich neugierig.

,,Eine Nummer." ,antwortet sie aufgeregt.

,,Kein Name?" ,frage ich enttäuscht.

,,Nope. Ruf' ihn doch mal an. Also jetzt." ,sagt sie und drückt mir ihr Handy in die Hand.

,,Doch nicht jetzt! Später." ,lehne ich das Angebot ab und halte meine Hand auf, damit Ally ihr Handy wieder nehmen kann. Als sie das tut, kommen wir schon an der Schule an.

Mit dem Taststock in der Hand gehen wir langsan in Richtung Eingang.

Als mich jemand anrempelt, fliegt mein Taststock aus der Hand.

,,Hey, pass' doch nal auf!" ,rufe ich aufgebracht.

,,Pass' du doch auf! Bist du blind oder was?!" ,quickt eine kleine Jungenstimme.

Fünftklässler. Wie ich sie hasse. Jedes Jahr werden sie jünger, kleiner und nerviger.

,,Schnauze!" ,faucht ihn Ally an.

,,Ach ja? Das wirst du bereuen!" ,ruft er aufgebracht und dann höre ich ein knacken.

,,Ally... War das grad mein Taststock...?" ,frage ich langsam und nervös.

,,Lynn... E - Seit wann hast du ein Taststock?" ,fragt sie nervös.

,,Ally!" ,fordere ich sie heraus, ,,War das mein Taststock?!"

,,J - ja..." ,sagt sie leise.

,,Dieses kleine Kind bringe ich um!" ,quicke ich und stürze nach vorne, ,,Wo bist du?!"

,,Lynn... Wir kaufen dir einen Neuen! - Hier, ein Stock. Benutz' den für 'ne Weile!" ,versucht sie mich zu beruhigen und drückt mir ein Stock in die Hand.

Ich atme aus und gebe mich damit zufrieden.

*****

,,Und du gibst jemanden anderen die Schuld?" ,fragt Judy aufgebracht.

,,Ich gebe nicht die Schuld! Ich weiß es doch! Ich habe es genau gehört!" ,widerspreche ich ihr.

Als ich mit einem fetten Stock nach Hause gekommen bin, ist Judy sofort ausgeflippt. Leider ist mein Vater arbeiten, sodass er nicht sieht, was Judy alles von sich gibt.

,,Ja, ist klar! Hätte ich jetzt auch so gesagt!" ,ruft sie genervt, ,,Oh, ich bin blind, hilfe! Ich muss immer anderen die Schuld in die Schuhe schieben... Ich bin ja blind, weswegen mir keiner was antun kann!"

,,Judy! Ich lüge nicht -"

,,Echt armselig, dass du kleinen Kinder die Schuld gibst. Lynn, das sind Kinder! Schämst du dich denn gar nicht?!" ,fragt sie aufbebracht.

,,Warum versuche ich dir auch meine Unschuld zu beweisen?! Ich meine, es interessiert mich einen scheiß Dreck, was du von mir denkst! Mir reicht das, wenn mein Vater mir glaubt." ,fauche ich sie wütend an und drehe mich - mit dem Stock in der Hand - um und gehe langsam und vorsichtig hinauf auf mein Zimmer.

Judy ist sowasvon respektlos und herzlos, dass ich manchmal echt denke, was mein Vater sich da ausgesucht hat. Ich würde am liebsten Judy und meinen Vater trennen, aber ich möchte nicht herzlos sein. Wenn mein Vater glücklich ist, soll er mit Judy zusammen sein.

Und nein, Judy war nicht der Grund, weswegen sich meine Eltern trennten. Sie haben sich ein Jahr vor Mums Tod getrennt. Wir haben immer noch im denselben Haus gelebt. Also meine Mum und ich. Mum sagte immer, dass Dad auf Geschäftsreisen wäre oder sonst was. Judy kannte er damals ein halbes Jahr nach der Trennung nur flüchtig. Es hat ihn aber sehr mitgenommen, dass meine Mum plötzlich tot war. Jetzt ist er endlich wieder glücklich. Mit Judy und mit mir.

Na ja, ich verstehe aber nicht, warum Judy mich so hasst oder warum sie mich wegen meiner Blindheit hasst. Bin ich zu viel Last auf ihrer Schulter? Oder war nicht das das Leben, was sie sich vorgestellt hat?

Es tut manchmal echt weh damit konfrontiert zu werden, dass man Mutterlos und blind ist. Immer noch. Obwohl es vor circa sechs Jahren gewesen ist.

Es tut noch genauso weh, wie damals.

Destiny [ editing ]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt