Kapitel 21 - Es wiederholt sich

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Ich ließ meine Hand zittrig sinken, während ich den Blick noch immer nicht von Tarim nehme konnte.
Ich hätte schreien können, das ganze Zimmer auseinandernehmen, um meinen Frust zu bewältigen.
Ich wollte hier raus, raus aus meiner menschlichen Hülle und raus aus diesem Schloss.
Ich wollte den Geruch von verbranntem Menschenfleisch in meiner Nase stechen spüren.
Ich wollte diesem Blutdrachen jeden Muskel, jede Sehne und jeden Knochen in seinem
erbärmlichen Körper zerteilen.
Ich wollte so viel, doch im Endeffekt stand ich nur rum, erstarrt zu einer Statue.
Fühlte es sich so an etwas zu verlieren, was einem wichtig war? War dies der berühmte Abgrund, das berühmte Loch in das man fiel, wenn jemand starb? War es normal, dass meine
Fingerspitzen sich kalt anfühlten, dass mein Bauch schmerzte und es in meiner Brust stach? War es wirklich das, was ein Drache fühlte wenn man ihm seines Schatzes beraubte? Oder war es Trauer welche einen zerfraß, weil man wusste, dass eine geliebte Person nicht mehr zurückkommen würde. Weil einem klar war, dass man nie wieder miteinander reden konnte, nie wieder zusammen lachen kann, nie wieder die Wärme des Anderen spüren konnte. Und so schwer wie dieser Gedanke in meinem Kopf hin und her polterte, so schwer fühlte sich auch mein Körper an. Meine Beine schienen mein Gewicht nicht mehr halten zu können, zitterten stark und verlangten danach endlich erlöst zu werden. Doch fallen lassen wollte ich mich nicht, weder auf den Boden, noch in das berüchtigte dunkle Loch. Meine Fingernägel gruben sich in das Holz der Kommode und meine Hand verkrampfte sich unter dem Druck. Ein Windhauch hätte wahrscheinlich genügt um mich doch noch zum Fall zu bringen, doch er blieb aus. Dafür erschütterte mich jedoch etwas anderes. Ein Klopfen. Keines welches beim Schlagen auf Holz verursacht wurde sondern das dumpfe Geräusch welches die Herzklappen erzeugten, wenn sie Blut durch die Kammern beförderten. Es war leise, langsam und schwach - doch vorhanden. Asynchron zu meinem eigenen, und greifbar nah.
Er lebte.

Er lebte! Wie ein Stromschlag durchzuckte die Freude und Erleichterung meinen Körper, belebte meine Beine wieder und schüttete Adrenalin, Dopamin und Serotonin in großen Mengen aus. Ich eilte die letzten Schritte zu Tarim und schob meine Arme unter den leblos erscheinen Körper des Tänzers. Die Kälte welche er ausstrahlte, kroch meine Arme hoch, durch mein Fleisch und schien sogar meine Knochen zu erreichen. Ich drückte ihn an mich, die Kälte gar nicht weiter beachtend, während ich ihn eilig aus dem Zimmer trug, darauf achtend, dass sein hübscher Kopf nirgendwo gegen stieß. Kaum waren wir auf den breiten Fluren, beschleunigten sich meine Schritte so schnell, dass ich schon fast sprintete. Erneut hatte ich einen Tunnelblick, doch diesmal nicht aus Panik, sondern aufgrund meiner Konzentration. Vor meinem inneren Auge hatte ich einen genauen Ablauf geplant, der Tarim vor dem näher kommenden Tod doch noch bewahren könnte.
Bei Kyle angekommen, hielt ich mich nicht lange mit Höflichkeiten auf und stürmte ohne auch nur einen Gedanken ans Klopfen zu verschwenden in sein Zimmer. Der Grünhaarige sprang von seinem Hocker auf und drehte sich mir zu, noch nicht wirklich den Eindruck machend in dieser Welt angekommen zu sein. Seine Haare standen zu allen Seiten ab und der Schlaf hing ihm noch im Augenwinkel. Verwirrt blinzelte er, ehe seine Schaltkreise wieder anfingen zu arbeiten und er den Körper in meinen Armen nicht als bloßen Jungen, sondern als Patient identifizierte. Sofort schob er die wenigen Sachen vom Tisch, auf dem auch schon Sinan lag. Polternd fielen die gestapelten Holzschalen zu Boden und die Blätter verteilten sich überall um den Tisch herum. Was auch immer auf ihnen geschrieben stand, es war nicht so wichtig wie das schwindende Leben in meinen Armen. "Was ist passiert?!", wollte Kyle wissen, bereits einen Kittel, Brille und Tuch angezogen. Ich brauchte nur Tarims Körper ein wenig seitlich drehen und sein linkes Bein anwinkeln, da sah er den Biss und verstand. "Gut, ich bereite Nadel und Faden vor, wirf dich in Schale.", nickte er und wendete sich einigen Schubladen zu, deren Inhalt hell schepperte als er diese ruckartig aufzog. Ich derweil band mir wieder ein Tuch um meine untere Gesichtshälfte und säuberte meine Hände. Kyle war bereits dabei mit einem Wattebausch die tiefen Einstiche zu säubern, als ich mich wieder zu ihm stellte. "Er wird Blut brauchen", murmelte er ernst, übergab mir die gebogene Operationsnadel, sowie eine Zange und eine Metallstift zum zudrücken der kleinen Löcher. Das Licht um uns intensivierte sich auf ein Level, die auch eine professionelle Lampe erreichte. Ich fixierte meine Blicke auf die Wunde und begann die ersten kleineren Einstiche mit einer Einzelkopfnaht zu versiegeln. "Ja ich weiß", entgegnete ich ohne meine Blicke zu heben. Uns war beiden klar, dass wir noch nicht die Mittel hatten für eine erfolgreiche Bluttransfusion. Selbst wenn wir die benötigten Werkzeuge hätten um Blut aus einem Beutel in seine Venen zu Pumpen, so scheiterte es dennoch an dem Unwissen über seine Blutgruppe. Natürlich könnten wir ihm einfach Blutgruppe 0 geben, welche als Universalspender galt, doch dafür müssten wir erst jemanden finden, der seine eigene Blutgruppe auch kannte - von den Menschen wird das wohl niemand sein. Und wir hatten weder die Zeit noch Möglichkeiten um nach einem passenden Spender zu suchen. Als der letzte Stich gesetzt war und der letzte Knoten zugezogen, legte ich die Werkzeuge beiseite und wischte mir einmal über die Stirn. Ich hoffte, er hatte noch nicht zu viel Blut verloren, und dass er ohne bleibenden Schäden überlebte. "Hast du das hier auch schon gesehen?", sprach mich auf einmal Kyle an und rollte Tarim sachte zurück auf seinen Rücken. Er zog den Bund seiner Unterbekleidung, welche das einzige noch verbleibende Kleidungsstück an seinem Körper war, ein wenig hinunter und blutige, doch nicht rech tiefe Kratzer wurden sichtbar. Sie formten ein Wort, direkt unter seiner Gürtellinie.

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