Kapitel 15 - Der Sturm nach der Ruhe

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Nach der Ruhe folgt der Sturm.
So konnte man den Morgen beschreiben, den ich heute erlebte. Es wurde ja schon fast zur Gewohnheit, dass mein Zimmer immer irgendwie zu den unmöglichsten Zeiten gestürmt wurde, doch gerade heute hatte ich mir einen friedlichen Morgen erhofft.
Noch mit dem gut duftenden Haar von Tarim, welches mich leicht an meiner Nase kitzelte und seinem warmen Körper dicht an mich geschmiegt friedlich dösend, lag ich eine ganze Weile im Bett. Wach, doch noch viel zu faul, um mich aus meiner Position zu bewegen oder meine Augen überhaupt zu öffnen, ruhte ich da. Die Sonne war noch nicht einmal aufgegangen und auch der erste Wechsel der Wachen noch nicht vollzogen. Ich hatte also bestimmt noch 10 bis 20 Minuten, in denen ich hier einfach liegen konnte, die Ruhe und den Frieden genießend...

Dachte ich jedenfalls, denn die Praxis entwickelte sich ganz anders als die Theorie.
Schon als ich die eiligen, schweren Schritte hörte, welche sich meiner Tür näherten, schlug ich genervt die Augen auf. Langsam und vorsichtig, um den Jüngeren nicht zu wecken, zog ich meinen Arm unter ihm hervor und rutschte ein wenig weiter weg. Sein Körper zog sich etwas zusammen und kuschelte sich tiefer in die Decke, als er die fehlende Wärme bemerkte. Langsam setzte ich mich auf, legte ihm die Decke noch ein wenig weiter über den Körper und stand dann schließlich auf. Die Schritte verstummten, als ich sie direkt vor meiner Tür ausmachen konnte. Zögerte er? Nunja, einen schlafenden Drachen weckte man ungerne.

Noch ehe er den benötigten Mut anzuklopfen fassen konnte, stand ich bereits an der Tür und öffnete diese. Das Gesicht des Wyverns wurde bleich und er senkte langsam seine Hand, mit der er gerade gegen das Holz hämmern wollte. Er stotterte kurz, doch der Grund für sein Erscheinen fiel ihm wohl schnell wieder ein, denn seine Blicke fokussierten sich auf mir. "Kyle schickt mich. Es geht um euren Patienten, irgendetwas scheint wohl nicht zu stimmen", informierte er mich angespannt und stand stramm. "In Ordnung, ich mache mich gleich auf den Weg. Kümmert Ihr Euch in der Zwischenzeit darum, dass alle Schlangenhändler aus Calypso, welche Würgeschlangen züchten, aufgetrieben und sie mit ihren besten Tieren zu mir gebracht werden", beauftragte ich ihn, machte ihn mit dieser schier aus der Luft gegriffenen Anweisung stutzig, doch nachdem er zu genüge seine Stirn gekräuselt hatte nickte er nur langsam und zog ab. Ohne mich vorher groß umzuziehen oder her zu richten machte auch ich mich auf den Weg, nur widerwillig den jungen, hübschen Tänzer zurück lassend - doch die Pflicht rief nach mir. Ich war ein kleines Bisschen gespannt, was mich erwartete. Gestern schien Sinan noch immer nicht ansprechbar zu sein. Ob sich seine Lage nun endlich gebessert hatte? Konnte ich ihm nun meine restlichen Fragen stellen? Oder war es vielleicht schon zu spät, noch bevor ich eintraf?

Das Kribbeln in meinem Körper wurde stärker, breitete sich aus und ich spannte mich an, während meine Schritte unbewusst länger und schneller wurden. Die Fackeln, welche die Flure beleuchteten und die Soldaten, die besonders bei Dunkelheit verdichtet waren, zogen an mir vorbei. Ich nahm sie kaum war, hatte meinen Blick nach vorne gerichtet, immer auf mein nächstes Ziel fixiert. Abzweigung um Abzweigung ließ ich hinter mir und auch die Wendeltreppe, welche mich in das untere Stockwerk brachte, meisterte ich souverän. Die Wachen, welche eigentlich vor Kyles schwerer Holztür Stellung halten sollten, standen nicht mehr dort und die Tür war einen Spalt breit geöffnet. Die Schreie, welche ich bereits am Beginn der Treppe deutlich vernehmen konnte, fanden hier auch ihren Ursprung. Schmerzerfüllt, laut, mit ganzer Leibeskraft erfüllten sie die Gänge und ließen jeden erschaudern. Solche Klänge vernahm man sonst nur aus der Folterkammer, wenn man eine der richtig fiesen Methoden anwendete, aber noch nie aus der Kammer des Heilers.

Ich wappnete mich innerlich für alles, was mich hinter der Tür erwarten könnte. Von einem völlig blutigen Sinan bis hin zu einem amoklaufenden, halb mutierten und halb menschlichen Drachen. Nach einem letzten tiefen Atemzug betrat ich schwunghaft den Raum und erblickte gleich die drei Männer, welche wirkliche Schwierigkeiten hatten, den blonden Jungen auf dem Tisch zu halten, auf dem er mittlerweile wieder lag. Ich sah schon von weitem einige seiner Knochen, die sich gegen die Innenseite seiner viel zu bleichen Haut drückten und diese wölbten. An anderen Stellen fing sie an dem Druck nachzugeben und zu reißen, gab weiße Schuppen frei, welche unter seinem Blut hervorblitzten. Aus seinem Kopf sprossen lange Federkiele und einige seiner Finger waren zusammengeschmolzen. "Er verwandelt sich", diagnostizierte ich aus meinem Gefühl heraus. "No Shit!", knurrte Kyle zwischen zusammengepressten Zähnen und war bemüht, die Brust des Jungen unten zu halten. "Wir müssen ihn raus bringen, sonst könnte er den Raum zum Einsturz bringen", meinte ich angespannt und bereits am überlegen, wie wir das am klügsten schaffen könnten. "Unmöglich! Wenn wir ihn loslassen, greift er uns an und verletzt sich selbst", kam es von einem Wachmann, welcher sich um die Beine kümmerte. "Wie lange geht das denn schon?", wollte ich wissen und trat nun endlich an den Tisch heran, um einen besseren Blick auf den Leidenden werfen zu können. "In ein paar Minuten ist es eine Stunde her seitdem er angefangen hat", antwortete Kyle trocken, sein Atem leicht erhöht. Mein Blick fiel forschend auf den Patienten, der überhaupt nicht gut aussah. Die Augen von Sinan waren blutunterlaufen, seine Iris milchig. Schweißperlen rannten seine Stirn hinab, tropften aus seinem Haar, doch als ich eine Hand auf seine Brust legte, durchfuhr mich ein Schlag an Kälte. Er war eisig, als hätte man ihn frisch aus dem Gletscher gezogen. Lag es an seinem Element? War er ein Eisdrache? Oder gehörte es allgemein zum Verlauf? "Sinan, hörst du mich?", versuchte ich ihn anzusprechen, doch erhielt keine Antwort. Er schrie weiter, wimmerte und sein ganzer Körper zitterte, als stünde er unter Strom. Ich wollte mir nicht ausmalen, welche Schmerzen er ertragen musste. "Sollen wir ihm den Gnadenstoß geben?", fragte ich ruhiger, die Konsequenzen meiner Worte wohl wissend. Kyle hob seinen Blick, welcher einen grauen Unterton angenommen hatte. Ich fühlte, wie er zögerte, sah seine mitleidigen Blicke auf Sinan. Gerade als sich seine Lippen spalteten, streckte sich Sinans Brust dem Assistentsarzt entgegen und sein Rückgrat brach deutlich hörbar an einigen Stellen. Jedes Knacken ließ mich erschaudern. Man könnte meinen, über die Jahre hätte ich mich dran gewöhnt, doch noch immer gehörte das Brechen von Knochen für mich zu den ekelhaftesten Geräuschen. "N...ein! I-ch... sch...aff..", brachte Sinan trotz seines Schreiens und Keuchens hervor, doch erlitt nur den nächsten Schwall, welcher seinen Körper durchrüttelte. Seine Wille war stark, doch war es das wirklich wert? Wer weiß, wie lange das noch so ging und ob es überhaupt ein Ende fand. "Dreht ihn auf die Seite", dirigierte Kyle die Männer, packte Sinan an den Seiten und half den beiden Wachmännern, ihn zu drehen. Nicht ganz verstehend sah ich meinen Kollegen an. "Er will nicht sterben!" In den Worten schwang so viel Überzeugung mit, dass ich mich dem nicht widersetzen konnte. Dieser Satz löste in Kyle etwas aus. Etwas, das seine Kraftreserven mobilisierte und ihn auf Hochtouren brachte. Egal ob im OP oder in der Diagnose, er war ein völlig anderer, wenn er wusste, dass der Patient unter keinsten Umständen sterben wollte und kämpfte. Mein Blick fiel auf meinen Diener, welcher ganz offensichtlich eine harte Schlacht in sich selber schlug. Sein Herz raste und er blutete an mehreren Stellen stark, füllte den Raum mit dem Eisengeruch und beschmutzte den Tisch, auf dem er lag. "Wir helfen ihm bei seiner Verwandlung!", übernahm der Winddrache das Kommando und deutete hinter mir auf den Tisch. "Nimm dir das Skalpell." Nun war ich es, der wortlos gehorchte. Ich erhellte den Raum durch meine Gabe und senkte meinen Blick auf den mir zugewendeten Rücken. "Solltest du Stacheln bemerken, welche aus seinem Rücken stechen, schneid' sie frei", wies er mich an und wieder nickte ich nur. Ich behielt den Rücken des schmächtigen Jungen im Auge. "Er wird wahrscheinlich ein Wyvern. Eine Dünne Flughaut trat aus seiner Achsel hinaus, und scheint wohl mit dem Knochen an seinem Arm verbunden zu sein. Sie wird sich sehr wahrscheinlich im Laufe der Zeit noch weiter vor arbeiten und das Fleisch zerteilen. Seine Hände scheinen sich wohl auch nicht wirklich zu Pranken zu verformen, sondern eher zu drei bloßen Fingern, welche man häufig bei Wyvern an den Flügeln sieht", informierte mich Kyle hochkonzentriert und wies die Wachmänner an, sich anders zu positionieren, damit Sinan seine Arme an die Seiten legen konnte und die Bildung der ledrigen Schwingen schneller verlief.
Ehrlich gesagt wusste ich nicht, wie lange ich diesen morbiden Szenen, welche jeder Drache nur aus Fantasien von missglückten Verwandlungen kannte, ausgesetzt war. Meine Ohren waren taub von den Schreien und ich sprach kaum noch, führte einfach die Befehle von Kyle aus. Wir bekamen Sinan so weit, dass die ersten Stacheln seines Rückenkamms hervor stachen, seine fünf Finger zu Dreien zusammengeschmolzen waren und aus diesen die ersten kurzen Krallen sprossen. Seine Oberschenkel hatten so gut wie keine Haut mehr um sich und der große Muskel lag frei, gerade mal von ein paar Schuppen bedeckt. Seine Blutungen milderten sich und sein Herz schlug viel langsamer als zuvor, weit unter der Norm. Als auch die ersten weißen Federn aus seinem Kopf geschossen waren und sich sein Haar heller gefärbt hatte, schien die Verwandlung zum Stillstand gekommen zu sein. Wir alle atmeten auf, als sich Sinan nicht mehr stetig verkrampfte und schrie, sondern nur noch wie ein Hund hechelte. Unsere Nerven lagen blank und ich schickte die Wachen los, damit sie mit anderen tauschten. Am liebsten würde ich auch jemanden holen, der mit Kyle tauschte, denn dieser sah müde aus und schien am Ende seiner Kräfte zu sein. Tiefe Augenringe zeichneten sich auf seiner leicht blasseren Haut ab und sein Herzschlag raste. Ich erwischte ihn hin und wieder dabei, wie seine Hände zitterten und hörte seinen Magen nach Essen verlangen. "Kyle, iss etwas... Sonst bist du der Nächste, der auf diesem Tisch liegt", versuchte ich ihn zu überreden und ließ mich mit den Hüften gegen einen Schrank fallen. Meine Hände waren voller Blut und auch meine Kleidung war mit dem roten Zeug befleckt, vermischt mit meinem eigenen Schweiß. "Ich kann nicht. Kein Appetit", murmelte Kyle bloß und benutzte einen Lumpen, um seine Hände grob von der klebrigen Masse zu befreien. Er warf ihn mir nach seinem Gebrauch zu und geschickt fing ich ihn auf. "Nur etwas. Du nützt mir nichts, wenn du gleich zusammenklappst", appellierte ich an seine Vernunft. Uneinsichtig schüttelte er nur den Kopf, nahm sich ein weiteres Tuch und tupfte damit vorsichtig den Dreck aus Sinans Wunden. Dieser bekam das kaum mit, war höchstwahrscheinlich wieder bewusstlos und sammelte Kräfte für die restliche Verwandlung. "Na schön, doch wenn du mir umfällst, dann erlöse ich Sinan von seinen Schmerzen und wende mich dir zu", zuckte ich nur mit meinen Schultern und warf ihm vielsagende Blicke zu - Blicke, die ihm verdeutlichten, wie ernst ich es meinte. Er schnaufte nur verärgert und wendete sich widerwillig der Tür zu. "Wenn was ist, schrei'." Mit diesen Worten dampfte er geschwind ab. Ich blieb allein mit Sinan zurück und ließ mich schließlich auf einen Hocker sinken. Wie spät wir es wohl schon hatten? Es schien, als würde die Zeit hier unten ganz anders vergehen, doch es fühlte sich wie Stunden an, gar Tage, die ich hier schon verbrachte. Ich hoffte es hatte bald ein Ende und jeder verließ lebendig dieses Zimmer.

Dragon's DancerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt