Du hättest für mich da sein müssen

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Früher dachte ich immer,
du wärst der größte Held,
und ich habe mir vorgestellt,
dass der Mann, den ich später einmal heiraten werde,
genauso ist du, weil du mein Vorbild warst.

Ein Teil meiner DNA besteht aus deiner,
und ich habe meine Sturheit von dir und noch so viel mehr.
Auf manches bin ich keineswegs stolz,
denn die schlechten Eigenschaften vererbt man zuerst.
Mein Bruder hat so viel mehr von dir,
denn er ist genau wie du,
auch wenn er es nicht gerne hört, aber es stimmt.
Und meine Schwester ist so viel mehr wie Mama.
Und ich, naja, ich bin eine Mischung aus euch beiden,
aber irgendwie auch nicht.

Aber wir zusammen, wir waren perfekt und glücklich,
bis wir es irgendwann nicht mehr waren,
und das Leben sich auf einen Schlag verändert hat.

Du hast deine Rolle als perfekten Vater Jahre lang erfüllt,
bis du es nicht mehr getan hast.
Heute frage ich mich, ob es wirklich soweit hätte kommen müssen,
aber darauf werde ich keine Antwort bekommen,
denn du bist kein Teil meines Lebens mehr,
weil du jetzt dein eigenes Leben ohne uns hast,
und nur noch jeden Monat auf deinem Kontoauszug siehst,
dass du drei Kinder hast,
die du hättest lieben müssen,
für die du hättest da sein müssen.

Du hättest mit mir meine Mathe Hausaufgaben machen sollen und mir Physik erklären können, aber du warst nicht da, weil es dich nicht interessiert hat.
Du hättest da sein müssen, als ich mich das erste Mal unglücklich verliebt habe.
Du hättest da sein müssen, um mir Abenteuer aus deinem Leben zu erzählen.
Du hättest da sein müssen, um zu sehen wie ich erwachsen werden und regelmäßig zu sehen, wie ich über mich hinauswachse.
Du hättest da sein müssen, um mich zu trösten, wenn das Leben und die Welt mal wieder ein Arschloch waren.
Du hättest da sein müssen, um mich zu beschützen.

Aber das warst du nicht, weil es dich nicht interessiert hat.

Du hättest mich lieben und beschützen müssen.
Jahrelang hast du die Aufgabe eines Vaters erfüllt,
und ich hätte keine besseren haben können, bis du es nicht mehr getan hast.

Heute weiß ich nicht einmal,
wie ich dich nennen soll,
denn wenn wir uns heute auf der Straße begegnen würden,
wären wir nur zwei Fremde, die zufällig miteinander verwandt sind,
und ich frage mich, wie es nur so weit kommen konnte,
schließlich waren wir früher mal Familie.

Heute weiß ich nichts mehr über dich.
Verdammt ich weiß ja nicht einmal wo du wohnst.

Du hast mir mein Herz gebrochen lange bevor irgendjemand anderes die Chance dazu hatte,
dabei hättest du bei uns sein und uns lieben müssen.
Denn du hättest für uns da sein müssen.

Aber wir bekommen ja nicht einmal eine Karte zum Geburtstag,
nicht einmal verspätet,
und ich frage mich,
ob du manchmal an uns denken musst,
und dich fragst, wie es uns geht,
oder ob es dir wirklich egal ist.

Wir sind für dich durch die Hölle gegangen und wieder zurück,
und ich hätte jedes Recht dich zu hassen,
aber ich kann es nicht, denn du bist unser Vater,
und wir haben dich geliebt,
denn Eltern kann man sich nicht aussuchen.

Aber heute, heute bist du mir egal,
weil du kein Teil meines Lebens mehr bist,
und ich ohne dich wahrscheinlich besser dran bin.

Trotz allem gibt es Momente,
in denen ich an dich denke,
und mir wünsche du wärst hier,
und wärst der Vater vor 10 Jahren,
der mich geliebt hat und der für mich da war.

Aber das bist du nicht mehr,
und ich erkenne dich nicht einmal wieder,
denn du hast Dinge getan, die niemand verstanden hat,
und ich bin mir nicht einmal sicher, ob du sie selbst verstehst.

Wegen dir drücke ich mit 20 immer noch die Schulbank.
Wegen dir habe ich Nächte lang wach gelegen und geweint.
Wegen dir ist das alles passiert.
Wegen dir war unsere Familie irgendwann keine Familie mehr.

Aber hey!
Schau mich an.
Ich stehe hier und aus mir ist etwas geworden.
Ich bin erwachsen geworden ohne dich, denn du hast das alles verpasst.
Ich hoffe du bereust das alles irgendwann und wünschst dir, dabei gewesen zu sein.
Denn du bist der einzige der irgendwas verpasst hat.
Denn hey, Papa, ich habe es auch ohne dich geschafft.
Ich lebe mein Leben ohne dich.

Und trotzdem frage ich mich, wie es so weit kommen konnte,
denn weißt du noch, früher waren wir Familie,
und heute sind wir nur zufällig miteinander verwandt,
denn für eine richtige Familie hättest du für uns da sein müssen.

Lautlose WorteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt