Vater-Tochter-Beziehung

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A/N: Mit diesem Text bin ich gestern bei meinen Auftritt bei einem Poetry Slam über mich hinaus gewachsen. Das erste Mal auswendig, das erste Mal mit richtiger Performance. Bin ein bisschen stolz auf mich.

Ich sehe dich an und frage mich, wer du bist.
Als ich ein kleines Mädchen war, ja da kannte ich dich,
du warst ein Teil meines Lebens, meines jüngeren Ichs.

Ich kam auf die Welt, mein erster Schrei - du warst dabei.
Ich wurde 7 Jahre alt und kam in die Schule, mit einer Schultüte, die damals schon zu groß für mich war und es heute noch immer wäre - du warst dabei.
Ich habe gelacht als du mir Geschichten erzählt hast - du warst dabei.
Ich habe geweint, als mein Lieblingskuscheltier weg war und wir es gesucht haben - du warst dabei.

Und dann wurde ich 11 Jahre alt - und du warst nicht mehr dabei, weil unsere Familie keine Familie mehr war,
und dein Platz am Esstisch plötzlich leer war,
und deine Schuhe neben meinen im Flur gefehlt haben.
Aber ich hab dich trotzdem gesehen, in meiner Sturheit und meinem Perfektionismus,
die ich beide von dir hab,
und jedes Mal wenn ich mein Bücherregal so ansehe fällt mein Blick auf die Bücher,
die ich mit dir gelesen habe,
und die ich heute ohne dich lese und liebe.

Und dann wurde ich 12 Jahre alt - wollte die Schule wechseln,
aber du wolltest das nicht und plötzlich war ich das erste Mal beim Gericht.
Du hast mich nicht gefragt was ich will, du hast meine Tränen nicht gesehen - du warst nicht dabei, als ich keine Ahnung hatte was in meinem Leben grade abgeht.
Und jetzt bist du der Grund warum ich mit 20 noch immer in der Schule sitze,
und nicht wie jeder andere normale Mensche mein Leben lebe.

Und dann wurde ich 14 Jahre alt - hab mich das erste Mal verliebt - und du warst nicht dabei, dich hat es nicht interessiert,
und ich hab mich gefragt, wer du geworden bist.

Und dann wurde ich 18, jetzt offiziell erwachsen - und du warst wieder nicht dabei.
Wir haben nicht mal ein Geburtstagskarte bekommen,
nicht einmal verspätet,
sondern nur so ein Anwaltsschreiben,
das mir zeigt, dass du jetzt sogar offiziell nicht mehr der Vater bist,
den mein 10 jähriges Ich noch kannte,
weil mein erwachsenes Ich nicht mehr versteht wer du bist,
weil du dich in deinem Handeln und dein Wesen so verändert hast,
denn irgendwie ist da keine Liebe mehr, die ich mal so geschätzt habe.

Ich sehe ein Bild an - Mama, du, meine Geschwister und ich, wir waren glücklich - und ich sehe mich nicht mehr Teil dieser Bilderbuchfamilie,
die mal glücklich war,
weil diese Familie nicht mehr existiert,
weil es uns nicht mehr gibt.
Denn ja vielleicht hab ich deine Gene,
aber mehr auch nicht und das bedeutet auch nicht, das du ein Teil von der Frau bist,
die ich heute ohne dich bin.

Du stehst mir gegenüber und ich sehe dich,
aber ich erkenn dich nicht.
Du bist ein Mann, ein Fremder, den ich mal Vater nannte,
und heute ist das einzige, was von unserer Vater-Tochter-Beziehung übrig geblieben ist, ich.
Und ich kann keine Beziehung am Leben erhalten,
wenn ich die einzige bin, die dafür atmet,
weil ich das ohne deine Luft nicht schaffe.

Und ja vielleicht hab ich deine Gene.
Und ja vielleicht steht auf meiner Geburtsurkunde dein Name.
Und ja vielleicht hast du jahrelang deine Aufgabe als Vater erfüllt.

Aber wenn ich dich so ansehe, dann erkenn ich dich nicht,
und wenn ich in den Spiegel gucke, dann sehe ich dich nicht mehr in mir,
denn wenn ich mir dich und mich so ansehe,
dann sehe ich,
zwei Menschen mit gleichen Genen, aber ohne Beziehung.

Wenn wir uns heute auf der Straße begegnen würden,
wären wir nur zwei Fremde,
die zufällig miteinander verwandt sind,
und ich frage mich, ob all das was wir erlebt haben, nicht mehr zählt,
einfach nur weil du beschlossen hast, nicht mehr mein Vater sein zu wollen,
und es dir reicht jeden Monat auf deinem Kontoauszug zu sehen, dass du drei Kinder hast,
die du hättest lieben und beschützen müssen.

Denn ja verdammt, wir sind verwandt,
jedenfalls steht auf meiner Geburtsurkunde dein Name,
aber es interessiert dich nicht,
sonst wärst du jetzt hier,
und nicht irgendwo auf dieser Welt an einem Ort,
von dem ich nicht einmal weiß,
wo dieses irgendwo überhaupt liegt.

Du hast das Recht dich Vater zu nennen schon vor Jahren verspielt,
und nur weil ich deine Gene hab und auf meiner Geburtsurkunde dein Name steht,
bedeutest das nicht,
dass du ein Teil meines erwachsenen Ichs und meinem jetzigen Lebens bist.

Denn du bist wie ein Geist,
der durch meine Vergangenheit spukt,
und es gibt Momente,
da wünscht sich mein 10-jähriges Ich in mir drin das du noch da bist,
aber das bist du nicht mehr, weil du kein Teil meines Lebens mehr bist.

Und manchmal tut es weh, die Bücher anzusehen,
die ich mit dir gelesen hab,
aber manchmal auch nicht,
weil man mit der Zeit lernt,
Dinge wie diese zu akzeptieren,
weil man sie einfach nicht ändern kann und alles einen Grund hat.

Dinge passieren, weil sie passieren,
und vielleicht hat unsere Vater-Tochter-Beziehung, die nicht mehr existiert irgendeinen tieferen Sinn,
den ich jetzt noch nicht verstehe,
aber ja vielleicht irgendwann,
wenn ich meinen Platz in dieser Welt gefunden habe.

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