15 - Mitleid

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Auf Arbeit versuchte ich mir meine privaten Probleme nicht anmerken zu lassen.

Als Marius das Büro betrat, war ich für einen Moment angespannt.

Ich hatte zunächst die Befürchtung gehabt, dass es zwischen Marius und mir komisch werden könnte. Doch er war wie immer. Er wünschte mir einen guten Morgen, erkundigte sich kurz darüber, welche Termine anstanden und verschwand dann in seinem Büro.

Es stimmte wohl: „Was auf der Betriebsfeier geschah, blieb auch auf der Betriebsfeier". Wir beide taten so als wäre nie etwas zwischen uns passiert. Und so war es mir auch am liebsten. 

„Alles gut bei Ihnen?", erkundigte Marius nach der Mittagspause.

„Ja, alles gut."

„Sicher? Sie wirken heute so neben der Spur."

Es war erstaunlich, wie er konsequent ignorieren konnte, dass wir erst am Freitag etwas miteinander hatten. Ich war leider nicht so abgeklärt wie er. In meinem Kopf waren einige Bilder noch zu präsent. Mir fiel es deutlich schwerer seriös zu wirken. 

„Hmm, nee ist nichts."

„Aber es ist nicht wegen Freitag?"

Ach, hatte er wohl doch nicht vergessen.

„Nein", antwortete ich ehrlich. 

„Also, wir sind uns doch einig, dass das nichts zu bedeuten hatte?", fragte er nun verunsichert. "Sie wissen schon. Wir hatten beide ein bisschen getrunken und naja eins führte zum anderen. Wie das auf Betriebsfeiern nun mal passieren kann. Ich will nicht, dass da Missverständnisse auftreten. Das war eine einmalige Sache. Das sehen Sie doch auch so?"

Ich nickte. 

„Ja, Sie brauchen sich keine Sorgen machen. Ich erwarte keinen Antrag von Ihnen."

Er lächelte nun und in dem Moment klingelte mein Handy.

Es war mein Sachbearbeiter aus dem Sozialamt.

Frau Schneider. Ich rufe wegen Ihrer Unterkunft an. Wir haben leider noch keine Wohnung gefunden, in der sie dauerhaft bleiben können. Deshalb werden Sie vorübergehend in ein Obdachlosenheim untergebracht bis wir etwas Dauerhaftes finden können."

Meine Mimik fror ein und mein Blick ging ins Leere.
Das dürfte nicht wahr sein. 

Nein! Nein! Nein!
In so einem Umfeld wollte ich meine Tochter nicht haben.

Das konnte nicht die Lösung sein. Das war keine Lösung. Das war ein zusätzliches Problem!
„Das geht nicht", sagte ich und mir kamen die Tränen.

Marius war noch immer im Raum. Er sah mich nun besorgt an. Natürlich spürte er, dass etwas nicht stimmte. 

Es tut mir wirklich leid Frau Schneider, aber im Moment kann ich Ihnen leider nichts anderes anbieten."

Ich legte auf.  Was sollte ich darauf antworten? Etwa 'Danke'? 

Ich sollte mich jetzt zusammenreißen, denn Marius sah mich musternd an. Doch ich konnte nicht. Ich begann bitterlich zu weinen. Ich hatte versagt. Ich hatte als Mutter versagt. Weil ich mein Leben nicht auf die Reihe bekam, musste mein Kind in einem Obdachlosenheim schlafen.

Das würde ich nicht zulassen. Vielleicht konnte ich Greta bei Mia lassen und alleine im Obdachlosenheim schlafen, aber auf keinen Fall wollte ich meine Tochter haben.

„Was ist passiert?", erkundigte sich Marius und lehnte sich zu mir nach vorne. Er sah mich äußert beunruhigt an. 

Ich sollte es ihm nicht sagen. Es hatte ihn nichts anzugehen, doch ich brauchte in diesem Moment ein paar tröstende Worte. Und die bekam ich nur, wenn ich sagte, was los war.

„Ich hatte bei meinem alten Vermieter Mietschulden", begann ich schluchzend. "und bin deshalb dort rausgeflogen aus der Wohnung. Also bin ich mit Greta vorübergehend zu einer Freundin gezogen, doch dort können wir nun auch nicht mehr bleiben, weil ihr Vermieter davon Wind bekommen hat." Ich schluchzte und wischte mit meinem Ärmel meine Tränen weg. "Und ich finde keine bezahlbare Wohnung und jetzt hat mir das Sozialamt vorgeschlagen, dass wir zunächst in einer Obdachlosenunterkunft schlafen sollen. Wie zur Hölle soll ich das meiner Tochter erklären? Eine Obdachlosenunterkunft! Wie ist das möglich? Ich habe einen Job! Ich verdiene Geld! Wieso muss ich dann mit meiner Tochter in eine Obdachlosenunterkunft ziehen?"

Ich konnte es nicht verhindern, dass ich noch einmal laut schluchzte.

Ich war am Ende.

Ich wollte aus diesem Alptraum endlich aufwachen.

Was war nur mit meinem Leben passiert? Wie hatte es soweit kommen können?

Ich spürte wie Arme mich umfassten.
„Nicht weinen! Bitte weinen Sie nicht!", startete Marius einen schrecklichen Tröstversuch.

Ich weinte trotzdem.

Ich tat alles für meine Tochter, was ich konnte, doch es war nicht genug.

„Sie verstehen das nicht! Ich werde mit meiner Tochter nicht in eine Obdachlosenunterkunft ziehen! Was denken die sich denn? Sie ist noch so klein und da sind so viele drogenabhängig."

Er streichelte liebevoll meinen Rücken.

„Ihr müsst da nicht hin. Zieht bei mir ein!"

Überrumpelt sah ich ihn an. Selbst mein Tränenfluss stoppte für einen Moment.

Vermutlich hatte er gerade nur gesagt, weil er weinende Frauen nicht ertrug.
„Ich meine es ernst", beteuerte er. „Ich habe eine viel zu große Wohnung, in der ich alleine wohne. Das ist mit Sicherheit deutlich bequemer als eine Notunterkunft."

Er schien das wirklich ernst zu meinen. 

„Sie müssen mich nicht aus Mitleid bei sich aufnehmen."

„Romy", begann er. Seit wann sprach er mich denn mit dem Vornamen an? „Du bist eine alleinerziehende Mutter mit einer wunderbaren Tochter und ich habe Platz bei mir zu Hause. Sehr viel Platz sogar. Was wäre ich für ein Mann, wenn ich euch nicht bei mir aufnehme? Ich habe sogar zwei Gästezimmer. Es macht mir wirklich keine Umstände."

Er sah mich an und sein Blick wirkte auf einmal so vertraut.
„Und von mir aus kann ich bei einer neuen Wohnung auch als Bürge einspringen. Dann wird das bestimmt schneller gehen."

Er schien mich wirklich zu mögen. Man nahm doch nicht einfach so seine Sekretärin und ihre Tochter bei sich auf.

"Bitte nehmen Sie das Angebot an!", sagte er schon fast flehend.

„Warum tust du das für mich?", hauchte ich gerührt.

„Weiß ich nicht so genau. Ich denke, weil ich dich einfach mag und das Gefühl habe, dass du es einfach verdienst, dass dir mal ein bisschen unter die Arme gegriffen wird. Manchmal muss man auch Hilfe annehmen. Das ist keine Schande und das ändert nichts daran, dass du starke Frau und eine gute Mutter bist."

Ich war kurz davor es ihm zu sagen. Der Moment würde sich irgendwie anbieten. Wir gingen gerade so vertraut mit einander um. Ich könnte die Gelegenheit nutzen ihm von Greta zu erzählen, doch ich traute mich nicht. Zu groß war die Angst, dass er mit der Situation so überfordert war, sodass er einen Rückzieher machen würde und wir doch nicht bei ihm unterkommen könnten.

"Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll."

My Little SecretWo Geschichten leben. Entdecke jetzt