25 - Auf einmal ergibt alles einen Sinn

8.9K 533 29
                                    

Als er vor mir stand, war ich erschrocken, wie er aussah. Er wirkte krank. Richtig krank.

„Hi", sagte er schwach und gab mir einen Kuss auf die Wange.

Ich hatte mich selten so unwohl in meiner Haut gefühlt. Ich fühlte mich im falschen Film.

Das einzig Positive, das ich dieser Situation abgewinnen konnte: Er schien nicht mehr sauer auf mich zu sein. Stattdessen wirkte er einfach nur tieftraurig.

„Komm rein!", nuschelte er.

Ich betrat seine Wohnung. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Er sah so verdammt fertig aus. Als hätte er nicht mehr geschlafen seitdem ich ihn gesagt hatte, dass er Gretas Vater war.

„Willst du was trinken?", fragte er als ich mich auf das Sofa setzte.

„Nein danke."

Er setzte sich neben mich.
Marius wirkte nur noch wie ein Schatten seiner selbst. Was war denn los?

Irgendetwas stimmte gewaltig nicht.

"Es tut mir leid, dass ich dich neulich so angeschrieben habe", entschuldigte er sich. "Das wollte ich nicht."

Er sah so gequält aus und ich begann mir wirklich Sorgen zu machen.

„Alles gut bei dir?", fragte ich vorsichtig.

Er biss sich auf die Unterlippe und schüttelte den Kopf.

„Nichts ist gut, gar nichts."
Er schien die Woche offenbar nicht genutzt zu haben um die Information zu verarbeiten.

Wir schwiegen einen Moment. Ich wusste nicht, was ich sagen soll oder warum er mich hierher bestellt hatte. Er schien nicht viel zu sagen zu haben. Er saß da und starrte einfach nur.

„Marius, ich verstehe, dass das ein Schock für dich war. Aber ich erwartete nichts von dir. Du entscheidest, wie das Verhältnis zwischen Greta und dir aussehen soll. Versuch dich nicht so fertig zu machen", versuchte ich es auf die sensible Tour.

„Nein, Romy", unterbrach er mich. „Du verstehst das nicht."

Er spielte nervös mit seinen Fingern. Noch nie zuvor hatte ich ihn in so einem Zustand gesehen.

„Dann erkläre es mir."

Er fing an zu weinen. Einfach so. Aus dem Nichts. Er fing tatsächlich an zu weinen. Was war denn so schlimm?

Es war ein bitterliches, herzzerreißendes Weinen, das mit durch Mark und Knochen ging. Ich konnte mich nicht erinnern einen Mann jemals so weinen gesehen zu haben.

Ich nahm ihn in den Arm.
„Hey, was ist denn los?"

Er schluchzte.

Es machte mir wirklich Angst.

Ich streichelte ihm eine Weile über den Rücken und redete beruhigend auf ihn ein. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit bis er sich wieder so unter Kontrolle hatte, sodass er wieder sprechen konnte.

"Marius, bitte erzähl mir, was wirklich los ist", bat ich ihn und hielt dabei seine Hand.

Für einen Moment dachte ich, dass er wieder in einen Heulkrampf verallen würde, doch dann fing er an zu sprechen.

„Ich habe dir doch erzählt, dass ich nie Kinder wollte und ich auch meine Gründe hatte, warum ich wollte, dass mein Ex-Frau abtreibt."

Ich nickte.

„Dieser Grund betrifft auch Greta."

Das konnte nichts gut heißen.

Was sollte das sein? Ich verstand die Welt nicht mehr.

„Mein Vater und mein Bruder sind beide an Chorea Huntington gestorben. Das ist eine Erbkrankheit. Die Chancen sie zu haben besteht für mich bei 50%. Ich habe mich nie testen lassen. Ich weiß nicht, ob ich das Gen in mir trage oder nicht. Falls ich es habe, dann besteht auch für Greta eine Gefahr von 50%, dass sie es bekommen könnte." Mir gefror das Blut in den Adern. „Diese Krankheit ist nicht heilbar und endet tödlich. Immer. Die Symptome treten meistens zwischen 30 und 40 Jahren auf. Also in meinem Alter. Bis jetzt habe ich noch keine, doch das ist noch keine Sicherheit. Es kann immer noch jeder Zeit ausbrechen. Und wenn man die Symptome erst einmal hat, wird es die Hölle. Ich habe es in meiner Familie gesehen. Niemand sollte so leiden müssen. Man hat zwar noch etwa 10 Jahre nach den ersten Symptomen zu leben, aber diese 10 Jahre sind die Hölle. Ich wollte nie Kinder haben, weil ich nicht wollte, dass eines meiner Kinder das durchleben muss, was mein Vater und mein Bruder erleben mussten. Aber jetzt ist Greta da und die Chance, dass sie das Gen haben könnte, ist erschreckend hoch."

Entsetzt sah ich ihn an.
Das hatte er mir jetzt nicht wirklich gesagt!
Das musste ein Alptraum sein und zwar ein ganz fieser!
Ich begann heftig den Kopf zu schütteln.
Nein! Nein! Nein!

"Es tut mir so leid, Romy", flüsterte Marius.

Jetzt verstand ich seine Reaktion: Ich verstand, warum er so fertig aussah. Ich verstand, warum er nie Kinder haben wollte. Ich verstand, warum er von seiner Frau verlangte, dass sie abtreiben sollte. Auf einmal ergab alles einen Sinn.

Und ich stand auf einmal vor den Trümmern meines Lebens. Mein Kind war vielleicht sterbenskrank.

„Es tut mir so leid, Romy", sagte Marius wieder und nahm mich in den Arm.

Jetzt weinten wir beide.

Nur langsam wurde mir bewusst, was das bedeuten könnte.

Greta würde vielleicht nicht alt werden. Und sie würde in ihren letzten Jahren vielleicht unendlich viele Schmerzen haben. Ich hatte von dieser Krankheit zwar schon einmal gehört, aber ich kannte keine Details. Ich war mir nicht einmal sicher, ob ich Details hören wollte.

Ich begriff, dass Marius Funkstille nicht gewesen, weil Greta ihm egal war. Ganze Gegenteil: Er hatte Angst um sie.

My Little SecretWo Geschichten leben. Entdecke jetzt