31 - Marius

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11 Jahre später

Liebe Greta,

ich wünsche dir alles Gute zu deinem 18.Geburtstag. Ich wünschte, ich könnte heute mit dir ein Eis essen gehen. So wie wir es damals an unserem ersten gemeinsamen Geburtstag getan haben. Das war der glücklichste Tag in meinem ganzen Leben. Du hast mich so stolz gemacht. Dein Vater zu sein, war das Beste, das mir je passieren konnte. Du bist die beste Tochter, die ich mir vorstellen kann. Ich bin so stolz auf dich und auch wenn ich heute vermutlich nicht mehr bei dir sein kann, sollst du wissen, dass ich immer an deiner Seite sein werde.

Alles Liebe

dein Papa

Tränen tropften aus Gretas Augen auf den Brief.

Sie nahm Marius Hand und streichelte diese liebevoll. Die Zwei hatte eine ganz besondere Verbindung.

Es stand nicht gut um ihn.

Die ersten Symptome waren nur ein paar Monate nachdem wir als Familie zueinander gefunden hatten aufgetreten.

Es hatte mit einem zuckenden Auge begonnen.

Marius hatte immer geplant sein Leben zu beenden bevor die Symptome sein Leben bestimmten. Doch Greta änderte seine Pläne. Er wollte so lange wie möglich für sie als Vater da sein. Er wollte sie nicht verlassen. Also kämpfte er gegen die Krankheit.

Doch einen Kampf gegen Chorea Huntington konnte man nicht gewinnen.

Zunächst konnten Medikamente ihm noch ein normales Leben ermöglichen. Doch die Zuckungen wurden immer schlimmer. Wären es nur die Gliedmaßen gewesen, wäre es wohl leichter gewesen damit umzugehen. Doch er konnte auch seine Gesichtsmuskeln nicht mehr kontrollieren. Er begann heftig zu zwinkern und die Mundwinkel zu verziehen. Schließlich konnte er nicht mehr richtig sprechen. Es war nur noch ein unverständliches Lallen, das über seine Lippen kam. Er begann die simpelsten Dinge zu vergessen und kam in einen Rollstuhl. Dann verlernte er das Schlucken.

Und mittlerweile lag er nur noch im Bett und war nicht mehr ansprechbar. Er wurde durch eine Sonde ernährt und wartete darauf endlich erlöst zu werden.
Seine Haare waren grau und dünn geworden. Er war blass und abgemagert. Nichts erinnerte mehr an den jungen, fitten Geschäftsführer, der er mal gewesen war. Davor hatte er immer Angst gehabt.

Es zerbrach mir das Herz, dass sein Leben genau so endete, wie er es nie gewollt hatte.

„Ich wünschte, er könnte endlich gehen", sagte Greta, die ihren Vater eigentlich nur als kranken Menschen kannte.

Ich war immer beeindruckt gewesen wie selbstverständlich sie mit seiner Krankheit umgegangen war. Es war ihr immer egal gewesen, ob andere Leute sie wegen der Behinderung ihres Vaters ansahen oder hinter ihrem Rücken über sie sprachen. Ihr Papa war immer der tollste von allen gewesen.

Sie hatten etwa zwei gute und normale Jahre zusammen. Und nochmal 5 Jahre, wo Marius zumindest noch geistig anwesend gewesen war. Die letzten 4 Jahre war Marius nicht mehr er selbst gewesen. Es war ausgerechnet Gretas 16.Geburtstag gewesen, als er sich nicht mehr erinnern konnte wer sie war.

Doch Greta besuchte ihn trotzdem fast täglich im Hospiz. Sie liebte ihn so bedingungslos wie er sie auch geliebt hatte.

„Das wünschte ich auch", stimmte ich ihr zu und nahm sie in den Arm.

Marius war ein so guter Mann gewesen und ich versuchte immer den lebensfrohen Marius in meinem Gedächtnis zu behalten. In den ersten Jahren hatten wir so intensiv gelebt. Wir hatten jeden Augenblick genießen wollen, denn wir hatten gewusst, dass wir davon nicht mehr viele haben würden.

Was für ein Glück ich hatte, das Greta dieses Gen nicht vererbt bekommen hatte.

Man war dieser Krankheit gegenüber so verdammt machtlos.

Man konnte nicht gewinnen.
Und Marius hatte den Kampf verloren.

My Little SecretWo Geschichten leben. Entdecke jetzt