41. Besuch

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Es ist dunkel und ich fiel schon mehrmals fast hin wegen eines Astes oder Steines, den ich übersah. Emy scheint das jedoch nichts auszumachen und trottet ganz gelassen neben mir. Ihre Hände sind ihrer Hosentaschen gesteckt und ihre inzwischen wieder längere dunkelblaue Haare fallen frei und etwas zerzaust auf ihre Schultern. Ich weiß, dass sie weiß, dass ich sie schon eine ganze Weile angucke und ich weiß auch, dass es für sie unangenehm ist, aber ich kann meinen Blick einfach nicht von ihr lassen. Dieser Moment, was zwischen uns vor einigen Stunden passierte, ist für mich immer noch so unglaublich. Dieses Mädchen erreichte, dass ich mich nun an Sachen erinnere, an denen ich mich nicht gerne erinnern würde. Ich wusste vorher gar nicht, was mit meiner Mutter war, ich hatte einfach keine Erinnerungen an sie. Aber jetzt sehe ich wieder alles klar vor mir. Wie sie mir an meinem ersten Schultag noch schnell einen Kuss auf die Stirn drückt oder wie sie ein Pflaster auf meinem aufgeschlagenem Knie klebt und meine Tränen wegwischt. Ich sehe sie voll und ganz vor mir, ihre große runde blaugrüne Augen und ihre hellblonde Haare, die sie immer zu einem Zopf gebunden hat, wenn sie sie nervten. Ich erinnere mich nun wieder, dass sie ein ovales Gesicht mit einer schmalen Stirn hatte. Ich erinnere mich an ihre schmale Nase, auf denen im Sommer immer kleine Sommersprossen zu sehen waren. Meine Sicht verschwimmt und ich kann nicht anders, als stehenzubleiben und auf den Boden zu starren. 16 Jahre ohne zu wissen was mit ihr ist oder wie sie aussieht.

»Meine Mutter hat mich geliebt«, murmele ich eher zu mir, als das jemanden zu sagen.

»Was?« Emy, die inzwischen weiterging, dreht sich um und kommt zu mir. Ich hebe meinen Kopf und gucke sie mit glasigen Augen an.

»Meine Mutter hat mich geliebt«, wiederhole ich mit gedämpfter Stimme.

»Natürlich hat sie dich geliebt«, sagt Emy und legt ihre Hand auf meine Schulter. Ich glaube, sie lächelt. »Jede Mutter liebt ihr Kind. Wie kommst du darauf, dass sie dich nicht lieben würde?«

Ich zucke mit den Schultern und gucke zur Seite. Heute Nacht ist es besonders still, als wäre mit dem Herbst jedes Lebewesen verschwunden. Nicht mal der Wind weht und trotzdem läuft mir Gänsehaut über den Rücken. Dann hole ich tief Luft und gucke wieder Emys maskiertes, emotionsloses Gesicht an. »Ich habe das immer geglaubt, weil ich bisher keine Erinnerungen an sie hatte. Und die Tatsache, dass sie verschwunden ist, macht das nicht besser. Sie ist nicht zurückgekommen. Sie ist nicht zu mir und zu meinem Vater zurückgekommen.«

Meine Stimme wird immer verzweifelt und gedämpfter, bis ich tief einatme und wieder ausatme. Traurig gucke ich Emy an, dann umarme ich sie einfach und vergrabe mein Gesicht in ihre Schulter. Sie erwidert die Umarmung, ohne zu zögern und streichelt sanft meinen Rücken, während sie flüstert:

»Ich bin mir sicher, dass sie zu euch zurückkommen wollte, sie konnte nur vielleicht nicht. Aber sie liebt dich und deinen Vater immer noch.« Das Mädchen löst die Umarmung, wuschelt etwas durch meine Haare, dann klammert sie sich an meinen Arm und zieht mich mit sich. »Aber jetzt komm, sonst erreicht uns noch der Morgen hier und ich würde noch gerne in der Dunkelheit nach Hause kommen.«

Ich kann darauf nichts erwidern, also gehe ich nur mit Pokerface ihr hinterher. Sie macht das Ganze bestimmt nur, damit sie mich nur aufmuntert, aber es soll mir recht sein. Auch wenn ich nicht weiß, wieso es mir helfen sollte das Grab ihrer Mutter zu sehen. Als wir den Waldrand erreichen, wird Emy automatisch langsamer, aber mein Handgelenk lässt sie nicht los. Ihr Griff wird sogar etwas fester darum, was mir etwas weh tut, aber ich sage nichts. Vielleicht wird ihr erst jetzt so wirklich klar, was sie vorhat und das verunsichert sie. Wenn ich ehrlich bin, ich kenne mich in dieser Stadt nicht wirklich gut aus. Dies ist nicht meine Heimatstadt, also verlasse ich mich auf Emys Erinnerungen und Orientierungssinn. Sie läuft etwas der Hauptstraße entlang, dann biegt sie an einer Kreuzung nach links und nach ungefähr fünf Minuten erreichen wir den Friedhof. Unbewusst schlucke ich schwer. Nicht weil ich Angst habe, sondern weil ich weiß, dass dieser Ort mich wieder an meinen Tod erinnern. Ich ziehe mein Handgelenk aus Emys Griff und greife nach ihrer, welche ich etwas zu fest halte. Sie dreht darauf natürlich ihren Kopf zu mir, aber sagt nichts. Vielleicht ist ihr auch klar, was für eine Wirkung ein Friedhof auf mich hat. Als wir am Tor ankommen, lässt Emy meine Hand los und klettert einfach über die Mauer, die das Grundstück umgibt und ich gleite einfach hindurch. Sie rennt sofort los und läuft zwischen den vielen Grabsteinen hin und her, wahrscheinlich völlig vergessen, dass ich auch da bin und mich hier überhaupt nicht auskenne.

Zerbrochene Seele || Creepypasta FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt