Das beste für alle meine Geschwister

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Wir saßen am Esstisch. Die Stille war erdrückend, als jeder von uns wartete, dass der andere etwas sagte. Ich flehte meinen Vater still an irgendetwas zu sagen und wenn es nur war, dass er fragte wie Rileys Tag gewesen ist. Langsam ließ ich meinen Blick über die Personen wandern; von meinem Vater zu Riley, dem seine Finger so sehr zitterten, dass er kaum richtig essen konnte. Er hatte Angst. Seitdem mein Vater kaum mehr Zuhause war und mich schlug, wenn er es doch mal war, hatte mein Bruder fürchterliche Angst vor ihm. Riley war ein guter Mensch. Er wollte nicht, dass man jemandem wehtat und ich war mir sicher, dass es ihm seelisch noch viel mehr wehtat als mir, wenn er es jedes Mal aufs Neue mit ansehen musste. Ich war mir auch ziemlich sicher, dass es nur eine Frage der Zeit war bis mein Vater ihn aus dem Haus schmeißen würde. Riley war schon zwanzig, aber er hatte weder einen Beruf, noch eine Ausbildungsstelle, obwohl er nicht dumm war. Ganz im Gegenteil der Junge war unglaublich intelligent. Nur seitdem unsere Familie den Bach runtergegangen war, waren seine Noten immer schlechter geworden und irgendwann so schlecht gewesen, dass ihn niemand mehr anstellen wollte. Noch dazu kamen seine immer häufiger werdenden Panikattacken, die er hatte. Ich nahm es ihm nicht übel. Ich verstand ihn vermutlich mehr als jeder andere, denn auch wenn ich es nicht zugab, so rutschte doch auch mir das Herz in die Hose, wenn unser Vater ihm diese unglaublich zornigen Blicke zuwarf. Riley konnte ja nichts dafür, aber sein Vater hasste ihn, dafür dass er seiner Mutter so unglaublich ähnlich sah. Er hatte ihre schwarzen Haare, ihre grünen Augen, ihre Gesichtszüge, ihre Art zu sprechen und ihr Lachen. Es war mir erst besonders nach dem Tod unserer Mutter aufgefallen und unserem Vater auch. Seitdem ignorierte er Riley und wenn er das nicht tat, dann sah er ihn mit einem Zorn an, der den Jungen immer und immer wieder in tiefste Panik versetzte. Ich konnte es kaum mit ansehen, denn es tat mir weh. Alles, was ich mir für meinen Bruder wünschte, war eine Familie, die ihn über alles liebte und für ihn da war. In dieser Familie war niemand für ihn da. Mein Vater drückte sich davor und machte die ganze Sache noch viel schlimmer als sie eh schon war und ich konnte es einfach nicht. Ich war ja auch nur der kleine Bruder und obwohl ich wirklich alles versuchte, ihm zu zeigen, wie sehr ich ihn liebte, so musste ich doch jedes Mal aufs Neue feststellen, dass ich selbst viel zu kaputt war, um ihm das zu geben, was er brauchte. Ich konnte ihn nicht umarmen oder ihn weinen lassen, weil ich es einfach nicht ertrug. Es erinnerte mich zu sehr an meine Mutter. Also ging ich statt für ihn da zu sein aus dem Haus und nahm Drogen. Ich kam damit nicht klar. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, um es irgendwie besser zu machen. Meine Möglichkeiten waren begrenzt.

Als mein Blick auf meine kleine, zehnjährige Schwester Sidney fiel, krampfte sich meine Brust schmerzhaft zusammen. Sie verstand nicht was los war. Sie hatte keine Ahnung, dass es falsch und nicht normal war, was hier jeden Tag geschah. Sidney sah mich ebenfalls an und ich schenkte ihr ein gequältes Lächeln. Dass sie im Rollstuhl saß und kaum einen ganzen Satz sagen konnte, war alles die Schuld des Mörders meiner Mutter. Sie war damals schwanger mit Sidney gewesen, als er sie erschossen hatte und obwohl die Ärzte rein gar nichts für meine Mutter tun konnten, retteten sie zumindest Sidneys Leben, aber manchmal fragte ich mich, ob es nicht besser für sie gewesen wäre, auch zu sterben. All die Aufmerksamkeit, die unser Vater ihr hätte schenken sollen, kam von mir oder Riley. Ich ging mit ihr zum Arzt, wenn es ihr schlecht ging oder sie eine ihrer vielen Untersuchungen hatte. Ich kochte das Essen. Ich zerschnitt es in möglichst kleine Teile, damit sie selbstständig essen konnte. Ich brachte sie abends ins Bett und weckte sie morgens wieder auf. Ich kümmerte mich um ihren Rollstuhl, wenn er mal wieder kaputt ging. Ich trug sie die Treppen nach oben, weil unser Vater keinen Lift einbauen wollte.

Zitternd holte ich Luft, als ich an all diese Dinge denken musste. Nein, das Leben war nicht fair.

„Riley hat gesagt, dass du wieder high warst.", sprach mein Vater plötzlich und durchbohrte mich fast mit seinem Blick. Wenn irgendetwas seinem Ruf oder Ansehen schadete, dann sprach er natürlich mit uns, ansonsten schwieg er uns an. Als mein Vater Rileys Namen erwähnte, hörte ich diesen verängstigt wimmern.

Tod, Drogen und die LiebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt