Atme ein. Atme aus. Ein und aus. Stille. Dieses Mantra wiederholte ich dreimal. Ich schaute ein letztes Mal auf meine Unterlagen. Langsam richtete ich meinen Blick auf die Zuhörer im Saal. Während ich aufstand verstummte das letzte Flüstern ganz und gar. Mimik, Gestik, klare Aussprache und etwas Charisma waren die wichtigsten Elemente einer gelungenen Präsentation.
Das erste Mal als ich einen Vortrag vor mehr als hundert Personen gehalten hatte, bin ich innerlich fast gestorben. Heute spürte ich nur ein leichtes Kribbeln in meiner Magengegend. Dies wurde nur von einem euphorischen Hochgefühl abgelöst. Ich stand hier, vor meinen Studenten und auf dem Platz den ich immer erreichen wollte.
Die Chance im Leben anderer etwas zu bewirken und die gleiche Leidenschaft zur Kunst mit ihnen zu teilen, machte mich nur glücklich. Ich fing meine Einleitung mit Zitaten an. Dabei sollten sich diese Aussagen absichtlich wiedersprechen. Eine Diskussion unter den Studenten sollte dadurch ausgelöst werden. Welche Sichtweise sie wohl einnahmen fragte ich mich. Für die einen ist das Glas immer halb voll oder halb leer.
Der Blick für das Gesamte ist das einzige was für mich zählte. An die anwesenden Studenten stellte ich die Frage, welcher der Zitate richtig wäre. Meine studentische Hilfskraft nahm ich als erstes dran.
In tiefster Überzeugung antwortete sie, dass Kunst nicht lügen konnte. Unter keinen Umständen. Ich wiederum schaute sie nur ausdruckslos an. Ernsthaft? Ich hatte sie für etwas Weitsichtiger gehalten. Hoffnungsvoller nahm ich eine weitere Studentin dran. Yeleen meldete sich. Kunst konnte aus ihrer Sicht auch Lügen, da es dem Prinzip der Willensfreiheit unterlag. Fast. Es brauchte noch etwas mehr.
Prüfend musterte ich meine anderen Studenten. Und da war sie. Die eine Studentin die sich heimlich in meine Gedanken stahl. Seit unserem letzten Gespräch versuchte ich mich immer auf andere Aufgaben zu konzentrieren. Was mir ehrlich gesagt nur kläglich gelang. Lynn's Laptop stand vor ihr, jedoch folgte sie mir meinen Gesten mit einem durchdringenden Blick. "Na!", dachte ich mir:" Dieses Spiel konnte man doch besser zu zweit Spielen!" Lässig lehnte ich mich gegen das Pult und schenkte ihr meine ganze Aufmerksamkeit.
Als ich das Wort an sie wandte, riss es sie förmlich aus ihren Gedanken. Zaghaft stützte sie ihren Kopf auf der rechten Hand ab. Abschätzend antwortete Lynn, dass alle Zitate richtig seien. Innerlich Atmete ich auf. Na endlich. Ich hatte mich in ihr nicht getäuscht. „ Wie können die Zitate alle stimmen, obwohl sie einander wiedersprechen?", hakte ich nach. Etwas fies von mir, musste ich zugeben. Doch ich wollte wissen ob sie bei ihrer Antwort blieb. Einen inneren Seufzer unterdrückend untermauerte sie ihre Aussage. Ihrer Meinung nach unterlag es dem Künstler, ob er die Wahrheit oder die Lüge in seinem Kunstwerk zum Ausdruck brachte. Kunst war subjektiv. Stolz überkam mich. „Korrekt.", sprach ich laut aus. „Genau das wollte ich hören."
Ein Raunen ging durch den Hörsaal. Dies war die einzige Sichtweise die ich meinem Kurs tolerierte. Das verdeutlichte ich meinen Studenten. Eifrig machten sie sich Notizen, dass ich sofort unterband. Weder Stifte, Papier oder Laptops sollten ihre Aufmerksamkeit stören. Das einzige was mich interessierte, war wie meine Studenten die Kunstwerke analysierten und ihre Empfindungen darüber ausdrückten.
Eine Hand schoss in die Höhe. Melody lehnte sich dabei so weit nach vorne, dass ich beinahe Angst hatte, dass sie gleich vorn überkippte würde. Drauf und dran war sie dabei mich zu unterbrechen. Mit schneidender Stimme machte ich ihr klar, dass ich noch nicht fertig wäre. Ich schloss meinen kleinen Vortrag damit ab, dass Daten und trockenes Wissen mich nicht interessierten. Meine Studenten sollten lernen ihre eigene Meinung zu bilden.
Von mir aus konnte man auf einem kleinen Zettel die prüfungsrelevanten Daten aufschreiben. Mehr jedoch nicht. Melody schaute resigniert auf ihr Pult und biss sich dabei auf ihre Unterlippe.
Ich fand es ja schön, dass Melody mich unterstützen wollte. Aber ich war derjenige der den Unterricht hielt. Als kleine Anmerkung ließ ich noch fallen, dass ich den hier Anwesenden beibringen würde an meinem Kurs Spaß zu haben. Natürlich wurde darüber sofort gelacht. „Sie dürfen ruhig lachen meine Herren.", entgegnete ich. „Auch darum geht es: Reaktionen hervorzurufen. Auch das möchte ich." Beim letzten Satz beobachtete ich die Wirkung die ich damit bei Lynn erzielte.
Ihre Augen weiteten sich und sie verschränkte ihre Finger ineinander. Nie wusste ich genau woran ich bei ihr war. Es kam mir so vor, als würde sie jedes Wort das ich sagte beleuchten. So langsam hatte ich meinen Spaß daran sie Herauszufordern.
Weiter dem Unterricht folgend zeigte ich verschiedene Kunstwerke aus verschiedenen Epochen und Strömungen. Willkürlich rief ich verschiedene Studenten auf, ihre Meinung darüber kund zu tun. Notizen fertigte ich dabei an, jedoch kommentierte ich die Aussagen nicht.
Die letzte Folie hatte ich eben gezeigt, während ich die Stunde gerade beenden wollte. Scheu merkte meine Assistentin an, das Programm für meinen Kurs noch auszuteilen. Verständnisvoll erwiderte ich nur, was ich nur ohne sie tun würde. Ein strahlen von dem einen Ohr zum anderen machte sich bei Melody breit. Was ein kleines Kompliment nur vermag, ließ mich immer aufs Neue staunen.
Mir kam dabei eine Idee. Warum sollte ich so eine Gelegenheit nicht ergreifen? Die Frage die ich erst allgemein und dann direkt an Lynn stellte kam mir einfach spontan in den Sinn. Bezüglich des Programmes fragte ich sie was genau sie interessierte. Offenbar aus dem Konzept gebracht, gab sie zurück nur dem Programm Beachtung zu schenken. Weichte sie meiner Frage aus? Das reichte mir nicht.
Ich wollte wissen welche Serie ihr gefällt. Was für ein Kunstwerk ihr besonders schien oder welches Gefühl sie noch nie mit einem Kunstwerk hatte. Egal was. Etwas mehr musste ich von ihr erfahren.
Erneut nahm sie mich in Augenschein und ein leichtes Grinsen zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab. Überraschend stellte sich heraus, dass Lynn ein Fan von „Game of Thrones" war. Kaum hatte sie das Ausgesprochen, kam sofort Kritik bei den anderen Studenten auf. Lynn zuckte dabei zusammen und versank merklich auf ihrem Stuhl. Gelächter war zu hören. Das hatte sie nicht verdient.
„Genau darüber wolle ich unter anderem mit Ihnen sprechen. Was gäbe es aktuelleres?", lenkte ich ein. Ein Kunstwerk das genau vor der Nase lag und nicht als solches wahrgenommen wurde. Was konnte sich nicht besser als das Anbieten in der modernen Kunstgeschichte? Die anderen Studenten waren hellauf begeistert. Die Stunde ging zu Ende. Es bildete sich wieder eine Schlange vor meinem Pult. Diesmal nahmen die Studenten das Programm zum Kurs an sich.
Auch Lynn war wie zu erwarten darunter. Ich musste etwas unternehmen. Diese Studentin hatte so viel Energie, die nicht verschwendet werden durfte. Es gab nur eine logische Erklärung, warum gerade sie für mich so heraus stach.
Ihr Potenzial. Und den Weg wollte ich ihr zeigen. Eine helfende Hand. Ja, das musste es sein. Deswegen ließ sie mich nicht los. Im Anschluss stand sie auch schon vor mir. Ich fragte sie kurz, ob sie zu sprechen sei. Etwas verunsichert, entfernte sich Lynn von der Schlange, um mit mir zu reden. Nervös hielt sie sich an ihrer Tasche fest und versuchte dabei ihre Finger unter Kontrolle zu bekommen.
Einerseits reizte es mich diese Reaktion bei ihr auszulösen. Andererseits wollte ich sie dazu bringen, sich in meiner Gegenwahrt wohlzufühlen. Ich fasste mir ein Herz und sprach frei heraus, was ich mir von ihr wünschte. Mehr Selbstvertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten. Sowohl erklärte ich ihr, dass die gelieferten Antworten immer richtig waren. Dabei waren die getroffenen Aussagen hieb und stichfest.
Anscheinend hatte sie mit meiner Ansicht der Dinge nicht gerechnet. Sie legte ihren Kopf etwas schief und holte hörbar Luft. Um dem Nachdruck zu verleihen, offenbarte ich ihr, dass nur ihr Name in meinem Gedächtnis geblieben ist. Was auch der Wahrheit entsprach.
Überdies tat Lynn etwas, dass ich erneut nicht erwartet hatte. In ihren Augen sah ich wieder den aufwallenden Scharfsinn, denn ich zu schätzen begann. Ohne zu zögern erwiderte sie, dass ich auch den Namen meiner Assistentin kannte.
Wiederholt hatte es mich kalt erwischt. War meine Studentin etwa Eifersüchtig? Mein Herz begann lauter zu schlagen und mein Atem ging schwerer. Sie musterte mich dabei. In dem ganzen Durcheinander, dass sie in mir auslöste, kämpfte ich mit meiner Selbstbeherrschung. Nein, dass konnte sie nicht gemeint haben.
Ich gab ihr gegenüber zu, dass Melody seit meiner Ankunft mir bekannt war. Das lag an ihrer Position als meine Assistentin zugrunde. Aufs Neue fühlte ich mich provoziert. Abermals spürte ich gegensätzliche Gefühle in mir aufsteigen, die ich nicht begreifen konnte. Prüfend studierte ich Lynns Gesichtszüge. Was sollte ich tun?
Am Ende wand ich meinen Blick von ihr und verabschiedete mich.
Die Tage gingen nur schleppend vorbei. Angefüllt mit Kursen, Nachbearbeitung und Gesprächen mit den Kollegen konnte ich mich nur halbwegs ablenken. Auch arbeitete ich mit Melody zusammen. Sie entpuppte sich als fleißige Studentin, die meiner Meinung nach ihr Studium sehr ernst nahm. Am späten Nachmittag gab ich ihr frei.
Während ich es ihr vorschlug, machte sie dabei ein irritiertes Gesicht. „ Wir haben heute schon einiges an Arbeit geleistet. Da ist eine Pause nur verdient.", entgegnete ich ihr. Nur wiederwillig nahm sie meine Weisung an. „Vielleicht möchten Sie, einer ihrer Freundinnen treffen. Machen Sie sich einen schönen Tag zusammen!", ermunterte ich Melody.
Ich erinnerte mich daran zurück, das Chloe gerne ihre Freundinnen am Campus aufgesucht hatte. Damals hatte ich mich in meinem Studentenzimmer zurückgezogen. An diesem einen Tag war Chloe wie ein Wirbelwind durch mein Zimmer getobt. Theatralisch hob sie ihre Arme gegen den Himmel und hielt mir eine ihrer berühmten Predigten.
„Eine Auszeit sich hin und wieder zu gönnen, ist ein M-U-S-S Rayan! Immer bist du so in deinen Büchern vertieft. Du kannst es nicht verstehen. Shopping mit Freundinnen ist wie Meditation für die Seele." Wir hatten so viel gelacht. Und ich hatte nur mein Studium im Kopf. Ob ich es bereute? Ja.
Allein zurückgeblieben in der Bibliothek packte ich meine Unterlagen zusammen. Je mehr ich versuchte meiner inneren Zerrissenheit aus dem Weg zu gehen, desto mehr holte sie mich ein. Ich machte mich auf den Weg nachhause. Aus dem Augenwinkel heraus nahm ich wahr wie Lynn und eine andere Studentin im Gothicstil gekleidet die Mensa betaten. Seit einigen Tagen hatte ich sie nicht mehr gesehen. Schlagartig hellte sich meine Stimmung auf.
Bevor ich auch nur einen konkreten Gedanken fassen konnte, setzten sich meine Füße automatisch in Bewegung. Wenn es ein Mittel gab, dass mich von meinen trüben Gedanken wegbrachte, dann war es ein Gespräch mit Lynn.
Lynn saß schon an einem freien Tisch in der Mensa mit ihrer Begleitung. Es musste eine Freundin von ihr sein. Wie war nochmal ihr Name? Chani wenn ich mich richtig erinnerte. Die beiden saßen auch bei meinem letzten Kurs zusammen. Ich nahm mir ein Tablett, ließ mir etwas Leckeres von der Kantinenhilfe empfehlen und steuerte auf den Tisch von Lynn und Chani zu.
Gesprächsfetzten betreffend der besten Pommes des Jahrhunderts, bekam ich noch von den beiden mit. Wohl bedacht näherte ich mich Lynn von hinten. Instinktiv drehte sie sich zu mir um, und die Überraschung stand ihr regelrecht ins Gesicht geschrieben.
Fragend schaute ich die Beiden an und erwähnte ganz beiläufig, ob ich mich zu Ihnen setzten durfte. Daraufhin viel ihr vor lauter Aufregung einer der besten Pommes des Jahrhunderts hinunter. Ich amüsierte mich köstlich. Das war genau das was ich brauchte. Chani rette die Situation, indem sie mich bat Platz zu nehmen.
Lässig stellte ich mein Tablett neben Lynns und setzte mich zu ihr. Ein Hauch ihres frisch gewaschen Haares stieg mir dabei in die Nase. Den leichten Blumenduft konnte ich nicht genau zuordnen, aber er war nicht aufdringlich oder zu süß. „ Gibt es keine eigene Mensa für die Professoren?", ergriff Lynn das Wort. Belustigt konterte ich nur, ob Professoren keine Bekanntschaften mit ihren Studenten machen konnten. Rasch dementierte sie das.
Ich stellte es als Scherz dar. Lynn und Chani erklärte ich, dass die Professoren auch ihre eigene Mensa besitzen. Nur das ich heute keine Lust auf lange fachbezogene Gespräche hatte. Etwas Abwechslung musste auch mal sein. Unbekümmert aß ich mein Essen.
Doch was darauf Folge war genau das, wovor ich eigentlich weg wollte. Eine tiefschürfende Unterhaltung mit Chani. Sie versuchte das Gespräch wieder in Gang zu setzen. Dabei stellte sie mir Fragen zur antike und mittelalterlichen Kunst. Unverwandt starrte ich Lynn mit offenem Mund an. Ihr schelmischer Blick sagte nur eines:" Da musst du schon durch." Chani stand mit dem Wissensdurst von Professor Lebarde in nichts nach.
Auch wenn ich mich dem ganzen Aussetzte, hatte es dennoch etwas Gutes. Das heimliche Lächeln, der wandernde Blick und wie Lynn den Kopf leicht zur Seite bewegte entging mir einfach nicht. Diese kleinen Nuancen nahm ich einfach wahr.
Mein Teller war leer und ich verabschiedete mich von den beiden. Am Ende stellte ich noch fest, dass diese Mensa weder dem Essen noch die Gespräche der Professoren in nichts nachstanden.
Lynn unterdrückte ein Lachen. Während ich mich von den beiden entfernte bekam ich noch einen letzten Gesprächsfetzen mit. „... ein bisschen aus dem Konzept...Er ist nicht..." Neugierig spitze ich die Ohren, doch der Lärm überdeckte den Rest der Unterhaltung. Versonnen machte ich mich nun endgültig auf den Weg nachhause.
DU LIEST GERADE
A different view (Rayan Zaidi FF)
Fanfiction„Ab dem heutigen Semester, bin ich Ihr neuer Professor für moderne Kunstgeschichte. Mein Name ist Rayan Zaidi." Die ersten Gedanken die ich zu seiner Person hatte waren ideenreich, pflichtbewusst, selbstkritisch, strategisch, verantwortungsbewusst...