Einsicht

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Mit einem lauten Knall viel die Tür hinter mir zu. Den Groll den ich seit dem gestrigen Tag in mir trug, hatte sich in mir festgesetzt. Gereizt stellte ich meine Tasche auf dem Pult ab. Ich grüßte weder meine Studenten, noch würdigte ich sie eines Blickes. Weder ein Thema, noch einer der vorbereiteten Kursunterlagen war mir gut genug. Ich wählte eine Künstlerin aus, die meine Studenten sicher nicht kannten. Um meine Überlegenheit zu demonstrieren, schrieb ich ihren Namen in großen roten Buchstaben an die Tafel. Yayoi Kusama.

In meiner Rage warf ich all meine Ambitionen, Lehrinhalte und Vorgehensweisen über Bord. Ich nahm alles zurück, für was ich stand. Dieser Unterricht sollte so sein, wie jeder andere auch. So sollten meine begangenen Fehler nicht wiederholt werden.
Überheblich hatte ich meine Frage an die Studenten gerichtet, ob diese Künstlerin überhaupt bekannt war. Doch da, in der hintersten Reihe hob zu meinem Erstaunen eine Person die Hand. Musste es unbedingt sie sein! Von all meinen Studenten, musste ausgerechnet sie es wissen?

Lynn saß neben Melody. Keine der beiden wollte ich an diesem Tag überhaupt wahrnehmen. Völlig in meiner Arroganz gefangen, überging ich ihre Meldung.
Verächtlich lies ich meinen Blick durch den Hörsaal schweifen. Elitär stellte ich fest, dass niemand die Antwort wusste. Nicht ein einziger im fünften Studienjahr. Ihre Hand reckte sich immer höher in die Luft. Verwirrung und Unsicherheit spiegelte sich in Lynns Gesichtszügen. Ich konnte sie nicht weiter ansehen.

Um dem Ganzen ein Ende zu bereiten, verlangte ich von den Studenten ihre Bücher zu nehmen. Sie sollten eine Kunstkritik schreiben und diese in der kommenden Stunde bei mir abgeben. Das sollte genügen, um die hier Anwesenden in Arbeit zu stürzen.
Missmutig setzte ich mich auf meinen Stuhl. So mit mir selbst beschäftigt, fuhr ich zusammen als Melody mich zu Recht wies. Sie stellte fest, dass nicht alle etwas zum Schreiben dabei hatten. Aufgrund meiner vorherigen Anordnung.

Erst als ich zu Melody hoch sah, erkannte ich welchen Schaden ich wirklich angerichtet hatte. Hochmütig schaute sie auf mich herab. Im krassen Gegensatz waren die Emotionen die Lynn zeigte. Unsicherheit und Sorge lagen in ihrem Blick. Mein Ärger verflog. Ich empfand nur noch Reue. Niedergeschlagen gab ich Melody Recht. Es war heute nicht mehr möglich für mich, diesen Unterricht zu halten.

„Kunst drückt sich dort aus, wo uns die Worte fehlen. Und heute habe ich keine passenden Worte.", sagte ich zu meinen Studenten. Meine Hand schloss sich um die Türklinke. Für mein Handeln entschuldigte ich mich und sagte den kompletten Kurs für heute ab.

Als sich die Tür hinter mir schloss, erhoben sich laute Stimmen. Von allem dem bekam ich kaum noch etwas mit. Ich begab mich direkt zum Sekretariat. Dort ließ ich Ausrichten, dass der heutige Kurs von mir abgesagt wurde. Völlig überrumpelt schaute mich die Sekretärin an:," Herr Zaidi, ist alles mit Ihnen in Ordnung? Sind Sie krank?" „Ja, mir geht es nicht besonders. Können Sie es dem Direktor bitte ausrichten?", antwortete ich ihr. Eine solche Ausrede zu verwenden gefiel mir gar nicht. Es würde sich rumsprechen, doch ich brauchte Zeit.



Um besser nachdenken zu können, wollte ich mich in meinem Büro zurückziehen. Trotz allem stand schon die nächste Überraschung vor mir. Melody saß in meinem Büro und wartete anscheinend auf mich. Wenn ich jetzt wirklich etwas nicht brauchen konnte, war es eine Konfrontation mit ihr.

Sie drehte sich zu mir um. Auf ihrem Schoß lag ein Stapel Papiere. Als sie aufstand, vielen diese zu Boden und verteilten sich in meinem Büro. Seufzend half ich ihr die Dokumente aufzulesen. Schweigen erfüllte den Raum. Ich hatte nicht vor den ersten Schritt zu tun. Demonstrativ ging ich zu meinem Schreibtisch. Unbeeindruckt setzte ich mich ihr gegenüber. Dies war mein Schlachtfeld und ich würde es unter keinen Umständen aufgeben.

Sie machte sich klein, biss sich auf die Unterlippe und rang nach Worten. „Ich weiß nicht,... Wo soll anfangen...Also! Ich habe mir Gedanken gemacht. Hier sind einige Aufzeichnungen. Vielleicht kann man das Ganze noch retten. Ich meine den nächsten Kurs...!", stammelte Melody verlegen vor sich hin. Sie hielt mir die restlichen Papiere hin. Dies ignorierte ich konsequent. Melody nahm die Dokumente wieder an sich. Immer mehr verhaspelte sie sich, dabei gewann ich wieder die Oberhand.

Mit monotoner Stimme gab ich ihr meine Entscheidung:" Ich schlage vor, dass wir unser „Gespräch", auf ein anderes Mal verlegen. Sie werden sich in Zukunft nicht mehr in meine Unterrichtsweise einmischen und auch nicht versuchen irgendwelche Dinge zu retten. Das obliegt in meiner Entscheidung. Nicht in Ihrer. Habe ich mich damit klar und deutlich ausgedrückt?" Auf einem Zettel notierte ich Zeit und Ort. Diesen schob ich Melody zu. „Sie werden dort erscheinen. Wenn sich unsere beiden Gemüter wieder beruhigt haben, können wir dann ein klärendes Gespräch führen. Sie wissen wo der Ausgang ist."
Ohne noch etwas zu sagen, verließ Melody den Raum. Und ich war endlich alleine.



Einen Tag später. Ich versuchte so gut es eben ging, den besorgten Fragen meiner Kollegen auszuweichen. Vor allem dem Direktor. Mir blieben nicht viele Möglichkeiten, doch irgendwie schaffte er es mich in der Bibliothek aufzustöbern. In der hintersten Ecke stellte er mich zur Rede.

„Sie wissen, warum ich Sie aufsuche?" Der Ton des Direktors war streng:," Sie haben einfach so, aus heiterem Himmel, den letzten Kurs abgesagt. Was ist mit Ihnen los?"
Mir blieb wirklich nichts erspart. Ich musste für mein Handeln die Konsequenzen tragen. Meinen Standpunkt vertat ich dennoch so gut es eben ging. Er machte sich seiner Enttäuschung mir gegenüber Luft. Sichtlich verstimmt lag er mir nahe, in Zukunft mehr Professionalität an den Tag zu legen. Zudem sollte ich mich nicht von meinen Gefühlen mitreißen lassen. Beruhigend legte er seine Hand auf meine Schulter. Ich war gerade so noch mit einem blauen Auge davon gekommen.

Der Direktor ging wieder. Aufgewühlt blieb ich zurück. Ich setzte mich auf einen Tisch und hing wieder meinen trüben Gedanken nach. Wie sollte ich das nur schaffen? Ein Rascheln lies mich aufhorchen. Jemand räusperte sich und sprach mich schließlich man.
„Lynn! Sind Sie schon länger hier?", fassungslos richtete ich mich auf. Was hatte sie hier verloren? Und wie viel von dem Gespräch hatte sie mitbekommen? Schüchtern antwortete sie mir, dass einige Dinge von ihr gehört wurden. Ablehnend stellte ich klar, dass es eine private Unterhaltung war. Sie versuchte ihr Handeln in Worte zu fassen, warum sie überhaupt zu mir kam und entschuldige sich auch dafür.


„...Aber ich kann nicht so tun als ob,....", bei diesem Satz unterbrach ich sie. „Offensichtlich doch. Wir müssen alle so tun als ob....Wir dürfen keine menschlichen Regungen zeigen. Wir müssen den Schein wahren und unsere Pflicht erfüllen. Damit wären wir schon zwei, die heute etwas gelernt haben."

Melody, der Direktor und jetzt auch noch Lynn. Wenn das so weiter ging, bräuchte ich dringend einen Satz neuer Nerven. Mitfühlen schaute sie mich wieder an. Bitte, warum ausgerechnet sie? Mein Hals zog sich zu. Ich konnte es nicht mehr ertragen, Lynn noch länger um mich herum zu haben. Nach einem Buch greifend wand ich mich von ihr ab.
Es gab für mich eine Sache, die ich unbedingt klar stellen musste. Melodys Verhalten. Ich konnte mir bei niemandem einen Rat holen. Meine nächsten Schritte musste ich mit Bedacht wählen.



Zu dem gegebenen Zeitpunkt und Ort, traf ich mich mit ihr. Die Sonne ging bereits unter. Gefasst stand sie vor mir in der Gasse. „Ich bin froh, dass Sie es einrichten konnten zu kommen.", eröffnete ich das Gespräch. „Mir ist es wichtig, die richtige Sichtweise klar zu stellen. Das betrifft unsere gemeinsame Arbeit für die Zukunft. Solche Gefühlsausbrüche sind beiderseits nicht gestattet. Wir sind beide Erwachsene und so sollten wir auch verhalten."
Melody versuchte mir in das Wort zu fallen. Ich erhob warnend meine Hand, als Zeichen damit aufzuhören. „Sollte so etwas nochmal geschehen, sehe ich mich leider gezwungen eine andere studentische Hilfskraft hinzu zu ziehen."

„Ich weiß, das hätte ich nicht tun sollen....", antwortete sie kleinlaut. „Ich habe nur versucht, alles richtig zu machen.... Tränen stiegen in ihr hoch. Nicht schon wieder.
„Das verstehe ich, aber es ist trotzdem wichtig, dass ich es Ihnen sage..." versuchte ich sie erneut zu beschwichtigen. „Ich habe mich völlig lächerlich gemacht!", rief sie aus und machte auf dem Absatz kehrt. Tief Luft holend drehte ich mich um. Dieses Mädchen war der schlimmste Fall von Ignoranz, der mir je untergekommen war. Statt einem neuen Satz Nerven, konnte ein Drink die Lösung für mich sein. Vielleicht hatte noch das Café von Lynn auf. Als ich um die Ecke ging, sah ich noch wie Lynn einen Stuhl packte und eilig in das Café trug.

Hatte sie etwas von dem Gespräch mitangehört? Panik stieg in mir auf. Ich musste es so schnell wie möglich klären. Nicht auszumalen, wie sie über mich urteilte. Oder welche Gerüchte daraus entstehen konnten. Sie lehnte sich über den Stuhl, den sie gerade eben noch herein getragen hatte.

Ich betrat das Café und stellte fest, sie hier zu finden. Ein spitzer Schrei erfüllte den Raum. Lynn war zusammen gezuckt und drehte sich panisch zu mir um. Schon wieder hatte ich sie erschreckt. Das wurde langsam zur Gewohnheit.

Im Café war es bereits dunkel. Anscheinend wollte sie schon schließen, was Schade war. So konnte ich nicht nach einem Drink fragen und etwas Zeit mit ihr verbringen. Natürlich bot Lynn mir etwas zu trinken an, das ich höflich ablehnte. Lieber half ich ihr beim zusammenräumen der Tische und Stühle.

„Schade, das war schon der letzte. So eine körperliche Arbeit hilft dabei, auf andere Gedanken zu kommen. Das ist genau das, was ich brauche...", stellte ich fest. Lynn musterte mich von der Seite:" Stimmt, ich weiß genau, was sie meinen." Vielleicht sollte ich in Zukunft öfters vorbei kommen und helfen. Lynn hatte nichts dagegen. Wenn sie die Arbeit nicht alleine machen musste.

Nervös fuhr ich mir durch das Haar. Wir waren alleine und ich hatte einige Dinge wieder gut zu machen. Ich entschuldigte mich bei ihr für mein Verhalten in der letzten Vorlesung. Sie verschränkte ihre Arme und legte ihren Kopf etwas auf die Seite. Das tat sie immer, wenn sie mir aufmerksam zuhörte. So langsam erkannte ich ihre Eigenheiten. Für sie war es kein Problem gewesen. Als Professor hatte ich ihrer Meinung nach, die Entscheidung Kurse zu halten oder nicht.

Erheiternd stimmte ich ihr zu. Sie schaffte es wirklich mich wieder auf andere Gedanken zu bringen. Ich musste endlich mit der Sprache rausrücken. Gespannt fragte ich sie, ob sie etwas von dem Gespräch zwischen Melody und mir mitbekommen hatte.

Sofort wurden ihre Wangen rot und sie suchte nach den richtigen Worten. Zerknirscht gab sie es am Ende zu. Mein Herz zog sich zusammen. Sie durfte sich kein falsches Bild von dieser Situation machen. Ich setzte meine Erklärungen fort, doch sie wehrte nur ab. Ich müsste mich nicht rechtfertigen. Beharrend schilderte ich ihr das Gespräch. Und wieder stellte Lynn mir eine Frage, die mich vollkommen aus der Bahn warf. „Hatte sie mit Ihnen geflirtet?", ohne nachzudenken kamen ihr diese Worte über die Lippen.

Das war der Vorteil einer direkten Frage. Ich hatte nicht weniger von Lynn erwartet. Kopfschüttelnd verneinte ich es: "Nein, Melody hatte nicht mit mir geflirtet. Es wäre nett mich ausreden zu lassen." Verschmitzt schaute ich mir Lynn genauer an. Vor Scham stand sie richtig in Flammen. Anscheinend wollte sie im Erdboden versinken. Niedlich.

„Melody ist eine sehr fleißige Studentin und sie wollte mir helfen, indem sie die nächste Vorlesung an meiner Stelle vorbereitet hat. Aber das ist nicht ihre Aufgabe. Lynn stimme mir dabei zu: "Das alles schien sie sehr getroffen zu haben. In der Schule war sie auch schon sehr ehrgeizig."

Verdutzt fragte ich sie, ob sie zusammen in der Schule waren. Lynn bestätigte es, sie waren sogar alte Freunde. Ich war zu ihr gekommen, um das Missverständnis aus dem Weg zu räumen und das keine Gerüchte entstanden. Lynn lächelte mich an:," Ja es war gut, dass Sie mit mir gesprochen haben. ich gebe zu, dass ich mir so meine Gedanken gemacht habe, als ich Sie und Melody gesehen habe. Einen kurzen Moment schwiegen wir. Suchend schweifte der Blick von Lynn umher. Sie vergewisserte sich, dass nichts vergessen wurde.

„Jedenfalls, vielen Danke für die Hilfe. Die konnte ich nach so einem langen Tag gut gebrauchen...", gestand sie mir.
Das Gefühl von Vertrautheit erfasste mich. „Gern geschehen. Außerdem wollte ich Ihnen begegnen, um ehrlich zu sein. Seit dem Vorfall letztens hatten wir noch keine Gelegenheit, darüber zu sprechen..."

Schützend verschränkte sie erneut ihre Arme und verlagere das Gewicht. Hin und hergerissen gab sie mir ihre Antwort:" Das hätte nicht passieren dürfen und es wird auch nicht mehr passieren." Forschend studierte ich ihre Gesichtszüge. Verlegen wich sie meinem Blick aus. Kam es mir nur so vor, oder hatte sich ihr Atem beschleunigt? Es war die moralische richtige Antwort gewesen. Doch ihre Haltung verriet mir etwas ganz anderes.





„Ich bin froh, dass Sie das Sagen.. Aber ich bin daran genauso schuld wie Sie. Vielleicht sogar noch mehr. Ich sollte schließlich ein Vorbild für meine Studenten sein... Aber...", ich zögerte. Diese Frau vor mir, versuchte mich zu schützen. Indem Lynn ihre eigenen Gefühle verleugnete, wollte sie mir die Möglichkeit geben die Dinge richtig zu machen. Doch was war Richtig und was war Falsch?

Ich stellte nur fest, dass wir alle nur Menschen waren. Mein Sinneswandel und der Vorfall in der Vorlesung waren das beste Beispiel. Weder Lynn, noch andere und mir selbst konnte ich etwas vormachen.

„ Auch ich habe Gefühle. und die kann ich nicht leugnen.", offenbarte ich Lynn. Ihr gegenüber gab ich auch zu, mich in ihr wiedererkannt zu haben. Wir waren beide am Anfang etwas verloren, doch kannten wir die Stadt aus unserer Vergangenheit. Dennoch fühlte ich mich hier deplatziert. Ihr musste es genauso gehen. Verständnisvoll erwiderte Lynn endlich meinen Blick.

„Ich weiß, es ist nicht meine „Rolle", wie Sie sagen. Aber ich merke, wenn andere jemanden zum Reden brauchen. und ich kann sehr gut zuhören." Völlig von ihr gefangen, gab ich meinen letzten Wiederstand auf. Sie konnte nicht echt sein. Stand sie wirklich vor mir? Eine Person wie sie, konnte gar nicht real sein. „Sie sind wirklich so gut wie perfekt...", sprach ich mehr zu mir selbst. Das Rauschen in meinen Ohren wurde lauter. Das heftige Schlagen meines Herzens wurde unerträglich. Nur mühsam konnte ich mich für ihre Worte bedanken. Doch es war nicht der richtige Ort und die richtige Zeit. Diese Gefühle die mich durchfuhren konnte ich ihr einfach nicht zeigen.

Ihr Mund war leicht geöffnet, der Blick verklärt. Ich streckte meine Hand nach ihr aus und legte sie auf ihre Wange. Mein Daumen berührte zärtlich ihre Unterlippe. Ganz sacht drückte Lynn ihr Gesicht gegen meine Hand. Die Wärme die von ihr ausging, durchfuhr meinen ganzen Körper. Entsetzt über diese Berührung, zog ich meine Hand weg. Stotternd suchte ich nach einer Entschuldigung.
Bis eine Stimme Lynns Namen rief.

A different view (Rayan Zaidi FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt