Geduld ist Zeit

123 3 0
                                    

Vor der Wanne hockten sie zu zweit und wuschen den Dreck von Lesja runter. "Was denkst du, welche Rasse sie ist?", fragte Ayla. Oliver vermutete: "Sieht nach einem Samojede aus". -"Kennst du dich gut mit Hunden aus oder bist du eher der Katzen Typ?". -"Hasen. Ich habe zwei Hasen". "Wirklich? Hast du sie mit nach Russland genommen?". -"Nein. Mutter passt auf sie auf". -"Wieso bist du überhaupt nach Russland gekommen? Es gibt so viele andere Länder". Oliver sagte erstmal nichts mehr, dann meinte er: "Ich bin nicht hier, um mit dir zu tratschen. Wir kümmern uns um den Hund, dann sehen wir uns morgen nach der Schule beim Training. 15:30, keine Minute später". Ayla nickte und kümmerte sich wieder um den Hund. Sie war sich sicher, dass Oliver von innen gar nicht so kalt war. Bestimmt war er einfach nur verbissen und viel zu diszipliniert.

Nachdem sie den Hund gesäubert und heimlich gefüttert hatten, verabschiedete Oliver sich. Er selbst wollte auch noch duschen gehen, was verständlich war. Also hatte Ayla nun einen Hund. Nachdenklich saß sie auf ihrem Bett und sah ihren Hund an, welcher auf dem Boden saß, hechelte, mit dem Schwanz wedelte und lächelte. Ihr war bewusst, dass man Hunde anmelden musste. Aber auf der Straße war Lesja ja auch noch nicht angemeldet. Niemand interessierte sich dafür, also sollte es kein Problem geben. Ihr größeres Problem war, dass sie neben sich selbst jetzt auch noch einen Hund trainieren musste. Zu ihrem Glück schien Lesja sich von Natur aus zu benehmen.

~~~

Pünktlich, genau wie Oliver es verlangt hatte. Er selbst schien aber noch besser werden zu wollen. Als Ayla die Halle betrat, übte Oliver noch für sich. Er war deutlich besser geworden. Ayla schwärmte in Gedanken: "Diese Grazie und Körperkontrolle... Wie hat er das nur so schnell erlangt? Er ist gerade mal ein Jahr älter als ich. Nicht mal... Wenige Monate. Ob er schon lange auf dem Eis läuft?". Schnell wechselte Ayla ihre Schuhe und dehnte sich. Schon bei den Dehnungsübungen unterbrach Oliver sie: "Du machst das falsch. Wenn du wirklich keinen Muskelkater haben möchtest, dann musst du dein Bein weiter anwinkeln". Ayla forderte ihn heraus: "Mach du es doch vor". Das ließ er sich nicht zwei mal sagen. Er stand sogar noch auf dem Eis, da streckte er eines seiner Beine so gerade nach oben, dass es nur eine Linie war. Das gleiche wiederholte er auch mit seinem anderen Bein. Ohne das Gleichgewicht zu verlieren oder zu zucken.

"Jetzt du", forderte er Ayla auf. Sie versuchte es wirklich, doch wusste, wie weit sie von ihrem Ziel entfernt war. Oliver kam vom Eis und half ihr nach. Ayla hatte Schmerzen, doch Oliver wollte kein Geheule hören. So eine Ausdehnung hatte sie noch nie versucht. "Gewöhne dich schon mal dran. Wenn du auf dem Eis stehst, wird das zu einer regulären Pose", wies Oliver sie an. Als er endlich von ihr abließ, nutzte Ayla ihre Chance für eine Pause mit einer Frage: "Wo ist eigentlich Sawath?". "Er kommt am Abend für das geschlossene Training. Dann wird er uns zusammen trainieren", erklärte er und hob dann das andere Bein von Ayla ungefragt hoch. Das war noch schlimmer als das erste. "Du musst mir Bescheid sagen, wenn es nicht mehr geht", vorsichtig drückte er weiter. Ayla quietschte: "Die Limits haben wir schon lange übersprungen". Oliver stöhnte genervt: "Sag doch etwas. Man kann sich ernsthaft dabei verletzen". Er ließ das Bein etwas zurückfallen. "Als ob du dir Sorgen machen würdest", rollte Ayla mit den Augen. "Tu ich auch nicht", zuckte Oliver mit den Schultern, "Aber am Ende schiebt man mir die Schuld auf. Und darum mache ich mir Sorgen".

Nachdem Oliver sie etwas auseinander genommen hatte, lief er auf das Eis. Beim Auftreten half er Ayla. An ihrer Hand zog er sie auf die Eisfläche. Er ließ los, verschränkte seine Arme und befahl: "Zeig mir, was du schon kannst". "Seit dem Unfall war ich nicht mehr aktiv auf dem Eis... Ich weiß nicht, ob ich noch-", zögerte sie und wurde von Oliver unterbrochen: "Verschwende nicht unsere Zeit mit reden". Ayla war etwas überfordert mit Oliver, der Junge war ziemlich grob. Was man nicht alles für seinen Traum gab. Also versuchte sie sich an ihre Tricks zu erinnern und sich wieder an alles zu gewöhnen. Mit vielem Stolpern bekam sie ein paar Drehungen hin. Oliver wies sie mitten in der Vorstellung an: "Probier einen Axel. Ich will sehen, wo das Problem bei dir liegt". Leise murmelte Ayla: "Eventuell bist gerade du mein Problem". Es brauchte viel Mut, denn Ayla wollte nicht wieder für ein paar Wochen nichts tun können. Einmal tief durchatmen und sie sprang hoch. Soweit funktionierte es auch, aber beim Aufkommen konnte sie ihr Gleichgewicht nicht halten. Sie fiel hin und rutschte gegen die Planke. Dabei verlor sie ihre Mütze.

Oliver kam angelaufen. Dabei beugte er sich runter und hob sein anderes Bein in die Luft, um ihre Mütze aufzuheben. Da fragte Ayla sich, ob er freundlich sein oder angeben wollte. Jedenfalls war er schnell bei ihr angekommen und zog sie in einem Ruck hoch. Mit dem Ruck hatte sie nicht gerechnet, also stolperte sie in Olivers Arme. Oliver zog ihr die Mütze wieder auf und ging einen Schritt zurück. Er dachte nach. "Du brauchst mehr Körperkontrolle", schlussfolgerte er nachdenklich. Danach sah er auf seine Armbanduhr: "Wir haben noch zwei Stunden, bis Sawath uns trainiert. Komm mit". Er schlitterte vom Eis. Ayla hatte keine andere Wahl als zu folgen. Sie verließen die Eishalle. "Wo gehen wir überhaupt hin?", fragte Ayla unsicher. Oliver sagte nichts. Sie gingen auf eine freie Wiese. Aus seiner Sporttasche holte er eine kleine Decke. Diese legte er auf dem Boden aus und hockte sich drauf. "Wie klischeehaft sich das auch anhören mag, du musst eins mit deinem Körper werden. Also kommen wir erstmal zur Ruhe", er zog sich seine Schuhe aus, holte Handy und Kopfhörer raus und machte sich Musik an.

"Meditieren?", fragte Ayla leicht ungläubig. "Klappe halten und einfach machen", Oliver ging in den Schneidersitz und saß sich locker hin. Ayla machte das Gleiche wie er. Auch sie machte sich Musik über Kopfhörer an und versuchte sich zu entspannen. Während Oliver ganz seelenruhig da saß, wurde Ayla unruhiger. Viel lieber hätte sie sich auf die Musik bewegt. Nach etwas Zeit tat sie das auch. Auf einmal riss Oliver ihr die Kopfhörer runter: "Ich höre deine Musik durch meine Kopfhörer durch. Denkst du ernsthaft, mit russischem Hardbass wirst du dich entspannen können?". Die Kopfhörer selbst vibrierten wegen dem Bass. "Was hörst du denn für Musik? Klassik?", fragte Ayla, welche sich persönlich etwas angegriffen fühlte. Oliver knurrte kurz zur Seite sehend und meckerte sie an, bevor er ihre Kopfhörer wieder aufzog: "Dreh die Lautstärke runter!". Schwer seufzend versuchte Oliver wieder runter zu kommen. Ayla machte ihre Musik komplett aus und sah Oliver nachdenklich an. Er hatte seine Augen geschlossen und seine Musik konnte man kaum durch die Kopfhörer hören.

Sie interessierte es, was er für Musik hörte. Neugierig lehnte sie ihr Ohr ganz nah an seines ran. Tatsächlich hörte sie leise die Musik, Neffex - Things Are Gonna Get Better. Oliver spürte wohl die andere Präsenz an seinem Ohr. Er zuckte erschrocken weg. Etwas aufgebracht zog er sich seine Kopfhörer raus und meinte: "Ich mach das hier für dich, nicht für mich! Versuch es doch wenigstens mal richtig!". "Um es richtig zu versuchen, brauche ich anscheinend die richtige Musik", verteidigte Ayla sich. "Wie naiv und verblödet bist du eigentlich?", fragte Oliver leicht mit dem Kopf schüttelnd. "Sehr naiv, aber nicht blöd. Danke", schmollte Ayla etwas. Oliver hatte nicht viel Geduld mit ihr. Er seufzte sich die Schläfen reibend: "Gott, du hättest mir jeden Menschen geben können und du gibst mir sie?". "Du weißt, dass ich gehen kann, oder? Ich bin auch gut alleine dran!", beleidigt stand Ayla auf und wollte schon gehen. Da wurde sie am Handgelenk fest gehalten. Leise sprach Oliver: "Bleib...". "Ist es, weil du Mitleid mit mir hast? Ich mag zwar frustriert gesagt haben, dass mich keiner mag. Aber wenn es stimmt, dann komme ich klar. Danke für den Hund, jetzt bin ich nicht mehr alleine. Ich brauche deinen Mitleid nicht", machte Ayla ihm klar.

Wieder wollte sie los gehen, da zog Oliver sie an ihrem Oberteil zu sich, legte seine Stirn an ihre an und sah ihr ernst in die Augen: "Ich habe kein Mitleid mit dir. Du sollst einfach bleiben, verstanden?". "Wieso?", fragte Ayla nicht verstehend und die Augen zusammen kneifend. Oliver knurrte still in sich hinein, wollte fast schon los lassen und meinte dann: "Mein Bruder würde mir die Hölle heiß machen. Wir beide gewinnen daraus, weil er mich dann endlich mit solchen Dingen in Ruhe lässt. Win-Win, also bleib". "Alles, was du verlangt hast, ist weniger Geheule. Ich habe nicht einmal geheult. Also erwarte ich von dir auch etwas Geduld. Ich bin keine perfekte Eisprinzessin wie du es bist", konterte Ayla. Oliver ließ sie los und zischte: "Fein".

Believe | *ABGEBROCHENWo Geschichten leben. Entdecke jetzt