Auftauen und einfrieren

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Die Informationen zu durchreichen ging schnell. Die Mutter schlug vor: "Der Junge sah so dünn aus. Ayla, bitte nimm dir einen Teller zusätzlich zu deinem und gehe zu ihm. Er sollte gesund bleiben". Auch sie noch. Eine andere Wahl hatte sie nicht wirklich. Sie folgte dem Hinweis und ging mit den zwei Tellern in ihr Zimmer. Oliver lag auf ihrem Bett, mit dem Gesicht zur Wand. Lesja lag dicht an ihm und wich nicht von seiner Seite. Gehört hatte er sie wohl nicht. Verwundert stellte sie die Teller leise ab, vielleicht schlief er. Sobald die Geräusche der Teller auf dem Schreibtisch ertönten, zuckte Oliver zusammen. Also war er wach.

Er weigerte sich seinen Blick umzudrehen. Aus einem anderen Winkel konnte Ayla mithilfe des Fensters über ihrem Bett in Olivers Gesicht durch die Reflektion sehen. Sie sah, wie ihm eine Träne runter lief. Sie war total überfordert mit der Situation. Erschrocken schloss sie die Tür und schloss ab. "D- du weinst...", stotterte sie überfordert. Oliver schreckte auf, rieb sich über die Augen und stritt ab: "Nein, tu ich nicht". Seine Augen waren nicht rot, seine Nase lief nicht und seine Stimme war klar. Dagegen sagen konnte sie nicht viel. "Ich habe es in der Reflektion gesehen...", versuchte sie die Wahrheit aus ihm zu bekommen. "Wahrscheinlich ist ein Tropfen an der Scheibe runter gelaufen. Ich weine nicht!", zickte er rum.

Seufzend setzte sie sich neben ihn auf das Bett, er rückte direkt von ihr weg. "Weißt du...", zögerte sie, "Es ist nicht schlimm zu weinen... Schon seit der Geburt ist es ein Zeichen, zu leben...". "Schön, aber ich weine nie!", verschloss er sich. "Also willst du sagen, dass du nicht lebst?", versuchte sie es weiter. "Besser als zu heulen und zu jammern, wie du es ständig tust!", verteidigte er sich selbst. Es war, als ginge Ayla eine Lampe im Kopf an. Sie schlussfolgerte: "Lass mich raten - Du siehst mich als jämmerlich und schwach an und willst keinesfalls wie ich werden. Daher versteckst du deine Schmerzen und deine Schwäche?". "Ich kann keine Schwäche verstecken, wenn ich stark bin! Hör auf zu sagen, ich sei schwach oder hätte Schmerzen! Du machst mir ständig diese Vorwürfe!", wurde er unruhiger.

Aufgebend stand sie wieder auf und rollte mit den Augen: "Na gut, dann sei halt unmenschlich, kalt und aus Stahl gebaut. Wenigstens zeige ich, dass ich ein Mensch bin und ein Herz habe. Ich zeige, was ich fühle!". Sie wollte gerade am Schreibtisch ihr Essen essen, da regte Oliver sich mehr auf: "Du gehst damit nur verdammt auf die Nerven! Ständig heulst du und beschwerst dich, weil dir etwas weh tut oder du etwas nicht hin bekommst. Gerne setzt du dich dann hin und statt wieder auf das Eis zu gehen und dich zu bessern, fängst du an zu weinen und machst dir selbst Vorwürfe! Schlimm genug machst du dann noch mir Vorwürfe für irgendwelche Dinge!". "Tut mir leid, dann werde ich nur noch mich selbst fertig machen. Ich werde mich in Zukunft nicht mehr um deine Gesundheit sorgen und nach dir fragen! Aber wenn wir deswegen nicht gewinnen, dann musst du dich darauf einstellen, dass ich die Schuld auf dich schiebe!", entschuldigte Ayla sich ironisch.

Oliver blieb für eine Sekunde ruhig und fragte dann leise: "In welchem Sinne machst du dich selbst fertig...?". Ayla starrte verwirrt gegen die Wand. Sie blickte durch den Jungen einfach nicht durch. Mit dem Kopf schüttelnd aß sie weiter. Ohne schnelle Bewegungen, nur ganz sachte, hockte Oliver sich ebenfalls an den Schreibtisch und fing an zu essen. Ja, sie blickte echt nicht durch. Beide beendeten das Essen und ließen die Teller erstmal da stehen. Oliver saß sich als erster still auf das Bett und sah Ayla nicht mehr an. Ayla meinte dann leise: "Du hast Recht, selbst wenn du es nicht so gemeint hast... Ich bin hässlich... Ich mag mein Lächeln nicht und benutze es daher nicht so oft... Ungefähr so mache ich mich selbst fertig...". 

Erst dann zeigte Oliver wieder Bewegungen. Nachdenklich sah er zur Seite und drehte das Volumen seiner Stimme mit einem Mal richtig auf: "Ich bin schwanger!". Verwirrt sah sie ihn an: "Das kann doch gar nicht gehen-". "Siehst du? Es ist unmöglich... Genau wie deine Aussage...", wurde seine Stimme wieder sehr leise, "Kein Mädchen dieser Welt kann hässlich sein, also hat kein Mädchen dieser Welt das Recht sich selbst als das zu bezeichnen... Auch du nicht...". Ayla fiel wieder ein: "Das hat Taro Yamamoto mal gesagt...". "Ich habe es vor ihm gesagt", gab er kalt her, "In einem Interview meinte er mal, diesen weisen Satz hatte er von einem kleinen Jungen gehört. Wenige Tage zuvor hatte ich ihn bei einem Fantreffen getroffen und mit ihm darüber geredet...". 

Ayla sah ihn mit großen Augen an. Glauben konnte sie das nicht. Oliver fügte hinzu: "An meiner Schule zurück in Thailand, da gab es eine menge Mädchen, die sich selbst hässlich fanden... Es gab sogar schon einen Todesfall deswegen... Sie hat sich selbst deswegen in den Tod gestürzt... Ich finde es unmenschlich, wenn weibliche Wesen wegen ihrem Aussehen falsch behandelt werden. Sei es auch nur von sich selbst...". Schon geriet er wieder auf 180, packte Ayla an den Handgelenken und zog sie an sich ran, um ihr bei seiner Ansage in die Augen zu starren: "Also hör auf, so etwas zu sagen! Alle Mädchen sind hübsch, so bist es auch du! Denke das nicht mehr und schaffe die Sorge aus deinem Leben! Und wenn wir vor allen Menschen auf dem Eis laufen werden, dann sollst du viel Lächeln! Zeig der Welt, dass du hübsch bist, ok?!". Ayla war total sprachlos. Ihr lief eine Träne die Wange runter, eine Träne der Erleichterung. Sie umarmte Oliver und gestand: "Mich hat noch nie jemand als hübsch bezeichnet... Nicht mal meine Familie...".

Oliver umarmte nicht zurück, aber knurrte: "Ich wette Lesja hätte es getan, wenn sie könnte...". Ayla wischte sich die Träne weg und lächelte breit: "Aber auch nur, weil ich ihr Essen gebe". Ganz schwach lächelte auch Oliver mal. Er zeigte nie Freude. Das war das erste Mal, wo sie sich gegenseitig zeigten, dass sie auch mal lachen konnten. Es klopfte an der Tür und Ayla schloss wieder auf. Der Vater stand lachend da. Mit einem Vokabelbuch in der Hand trat er in den Raum, sah Oliver an und weitete seine Arme. Im grottigen Englisch sprach er: "Du bist immer in unserer Familie Willkommen!". Oliver lachte schon längst nicht mehr und sah etwas verstört aus: "Danke...?". Ayla wurde rot und räusperte sich: "Vater?". Er lächelte sie an und entschuldigte sich: "Aber natürlich, Entschuldigung". Die Tür ging zu, da öffnete er sie wieder und zeigte auf die Teller: "Die räumst du noch auf".

Wieder war die Tür zu. Oliver fragte sie: "Was war das gerade?". Ayla wollte es nicht aussprechen: "Ich habe nichts Falsches erzählt. Wirklich nicht. Wie auch immer er auf die Idee gekommen ist, er würde dich wohl als Schwiegersohn akzeptieren...". Oliver wurde etwas grün im Gesicht. "Falls du dich übergeben musst, das Bad ist hier um die Ecke", wies sie ihn hin. Nickend stand Oliver auf und seine Stimme war etwas erdrückt: "Geb mir bitte einen Moment...". Tatsächlich verschwand er im Badezimmer. Ayla stapfte sofort ins Wohnzimmer und verschränkte vorwurfsvoll ihre Arme: "Wir sind nicht mal befreundet!". Ihr Vater lachte: "Wir haben nachgeschaut und über ihn recherchiert. Er würde in Zukunft sehr viel gutes Geld mitbringen. Außerdem hat er sich von mir nicht einschüchtern lassen, der Junge gefällt mir!". "Natürlich tut er das...", sie rollte seufzend mit den Augen.

Ohne Weiteres klopfte sie an der Badtür: "Alles ok bei dir?". "Komme gleich... Das war gerade nur wie ein Schlag in den Magen...", gab er ehrlich zu. Stumm imitierte sie Oliver: "Ich bin nicht schwach". Am Ende hatte dann doch immer die Frau Recht.

Believe | *ABGEBROCHENWo Geschichten leben. Entdecke jetzt