7. Kapitel

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Eine Weile schwiegen wir wieder. Mir war verdammt schlecht. An Ylvas Stelle wäre ich schon längst gegangen. Doch sie ging nicht.
Was eigentlich ziemlich gut für mich war, da ich sonst vielleicht irgendeine Dummheit gemacht hätte...
,,Pax?", flüsterte sie nach einer Weile.
,,Ja?"
,,Vertraust du mir?"
Ich kannte sie erst etwa einen halben Tag, normalerweise vertraute ich Fremden nicht so schnell. Doch bei Ylva...
,,Ja", flüsterte ich als Antwort, setze mich auf, und rutschte zu der Bettkante, um mich an den Rand des Bettes zu setzen.
Ich stellte mir vor, wie sie lächelte. Es war ein wunderschönes Bild, auch wenn ich nicht wusste, welche Farben sie trug, oder wie das Mädchen generell aussah.
Ein lautes Knarren meines Bettes verriet mir, dass sie aufgestanden war. Wo ging sie hin? Warum ging sie weg? Konnte sie nicht bleiben?
Ich wollte ihr folgen, mich ebenfalls aufrichten, doch sie drückte mich zurück.
,,Vertrau mir, Friede"
,,Wie soll der Frieden einer Wölfin vertrauen?", meinte ich, ein wenig belustigt. Wie ironisch unsere Namen doch waren. Ihrer passte zwar zu ihr, aber Wölfin und Friede? Das komplette Gegenteil.
,,Ganz einfach: schließe deine Augen, und vertrau mir einfach"
Leise seufzte ich, dann nickte ich mit meinem Kopf und schloss meine Augen.

Ich hörte, wie sie nach irgendwas suchte. Kurz darauf kam sie zurück zu mir.
,,Nicht erschrecken. Ich zieh dir Schuhe an. Rechter Fuß her", befahl sie mir, und sofort tat ich was sie sagte. Moment mal... Schuhe? Warum Schuhe? Hä?
Nachdenklich lauschte ich den Geräuschen. Was hatte sie nur vor? Wollte sie etwa rausgehen?
Kurz darauf spürte ich, wie Ylva mir auch am linken Fuß den Schuh anzog. Ich hatte beschlossen, sie einfach zu lassen. Ich glaubte, ich konnte ihr vertrauen...

,,So, fertig. Komm, steh auf"
Das Mädchen legte ihren Arm um mich, zog mich sanft, aber dennoch bestimmend hoch.
,,Wohin gehen wir?", fragte ich, während wir irgendwo hingingen.
,,Vertrau mir einfach, Pax", kam nur als Antwort.
Moment mal. Ich hatte Schuhe an. Aber sie? Hatte sie keine Schuhe an?
Wenn ja, warum? Ich verstand gar nichts mehr. Zum Barfuß-gehen war es doch schon zu kalt, es war ja schon Herbst. Vor allem aber wollte ich nicht nach draußen...
Vielleicht gingen wir ja gar nicht nach draußen...
Ich hoffte es.

Nach einer Weile hielt Ylva, die mich die ganze Zeit energisch in eine Richtung gezogen hatte, an. Kurz darauf öffnete sie eine Tür und zog mich wieder mit sich.

Kies knirschte.
Vögel zwitscherten.
Die Sonne strahlte warm.
Grillen zirpten.
Ein Specht klopfte an einen Baum.
Eine Katze maunzte.
Grashüpfer hüpften.
Das Wasser des Teiches schwappte.
Der Wind wehte.
Irgendein Auto fuhr in der Ferne.
So viel spürte ich hier.
So viel hörte ich hier.
Es überforderte mich vollkommen.
Ich blieb stehen, biss mir auf die Lippen.
,,Ylva...ich kann nicht. Ich kann nicht hier draußen sein. Es ist viel zu laut hier"
Sie jedoch strich über meine Haare, dann zog sie mich fester an sich.
,, Vertrau mir einfach, Pax. Bitte. Ich will dir etwas zeigen"
Langsam nickte ich, folgte ihr weiter.
Verdammt, all die Geräusche, sowie die Berührungen des Windes, welcher mir sanft über meinen Nacken strich, machte mich völlig verrückt...
Doch ich versuchte es zu ignorieren, mich daran zu gewöhnen.
Ich wollte nämlich unbedingt wissen, was sie mir zeigen wollte...

Nach einer Weile blieb sie stehen, drückte etwas gegen meine Brust.
,,Setz dich hin. Unter dir ist eine Bank"
Langsam und vorsichtig setzte ich mich hin. Es war wirklich eine Bank dort, zum Glück.
Ich hörte, wie sie leise, aber zufrieden seufzte, und sich schließlich neben mich setzte.
,,Wo sind wir?"
,,An meinem neu auserkorenen Lieblingsort: Dem Pavillon. Man sieht ihn vom Klassenfenster aus. Und es so wunderschön hier..."
Ylva lehnte sich ein wenig an mich, ich hörte, wie sie während dem Reden ein wenig lächelte.
,,Wie sieht es hier aus?", fragte ich sie leise, hätte am liebsten alles mit meinen eigenen Augen gesehen. Doch die hatten mir ja einen Strich durch die Rechnung gemacht. Und ich hab nach drei Jahren immer noch nicht geschafft, den scheiß Radiergummi zu finden, um den Strich auf der Rechnung wegzulöschen. Vielleicht war der Strich ja mit einem nicht wasserlöslichen Filzstift gemalt, sodass man ihn wohl nie wegbringen würde. Es sei denn, man würde die Rechnung, sprich mein Leben, wegwerfen...
,,Oh... wunderschön. Der Pavillon ist weiß gestrichen, ebenso wie die Bank. Das Gras ist noch schön grün, obwohl es schon Herbst ist. In diesem Gras liegen ganz viele Blätter, die alle bunte Farben haben: grün, gelb, rot, braun. Auch gemischte Farben. Außerdem ist die Sonne gelb und..."
Sie hielt kurz inne, schien nachzudenken.
Ich versuchte mir den Ort vorzustellen. Doch er war nur schwarz...schwarz wie ich selbst.
,, Moment...weißt du überhaupt wie Farben aussehen?"
Langsam schüttelte ich meinen Kopf.
,,Nur schwarz und weiß ist in meinen Erinnerungen geblieben. Die anderen Farben weiß ich nicht mehr ganz. Kannst du...kannst du die Farben vielleicht beschreiben?"
Ich spürte, wie sie einen Arm um mich legte. Dann antwortete das Mädchen neben mir: ,,Ich kann es versuchen. Das Gras, es ist grün. Grün erinnert an Leben, an Glück. Grün ist eine wunderschöne Farbe, so unschuldig und doch so schön. Grün steht für Leben"
Angestrengt lauschte ich ihren Worten, versuchte mir die Farbe vorzustellen.
Langsam nickte ich, ich hatte ein ungefähres Bild im Kopf. In meinen Gedanken malte ich den Boden, das Gras, grün an. Eine einzige Farbe gegen schwarz...
,,Die Sonne und einige Blätter der Bäume sind gelb. Gelb ist ähnlich wie grün, nur viel heller. Es macht ein wunderschönes Strahlen aus, so ähnlich wie weiß. Nur in einem warmen Ton. Wie die Sonnenstrahlen, die du spürst"
Auch hier konnte ich es mir ein wenig vorstellen. Ich malte die Sonne mit dieser Farbe an, ebenso wie ein paar Blätter der Bäume, die einfach irgendwo standen.
,,Der Himmel ist hellblau. Hellblau ist wie...wie ein Meer oder ein Pool; Ziemlich tiefgründig, jedoch beruhigend und entspannend
Am Himmel sind ein paar Wolken, welche ein wenig grau sind, vermutlich wird es bald regnen. Grau ist eine Mischung aus schwarz und weiß"

So ging das eine Weile hin und her, mein gedankliches Bild im meinem Kopf wurde immer bunter. Zwar wusste ich nicht, ob es die richtigen Farben waren, aber ich machte es einfach nach Gefühl, und der Erfahrung von Farben, die ich bevor dieses Unglück passierte, hatte.

,,Ylva?"
Das Mädchen zuckte zusammen, wahrscheinlich war sie gerade ebenfalls in Gedanken versunken gewesen.
,,Ja?", flüsterte sie leise.
,,Wie sieht Regen aus?"
Sie lachte leise.
,, Regen ist ganz unterschiedlich. Mal eher bedrückend, mal eher befreiend. Es ist so... so wie die Stille. Doch Regen ist auch rhythmisch", erklärte sie mir, doch ich schüttelte meinen Kopf.
,,Nein, nicht wie er sich anfühlt, das weiß ich auch. Ich wollte wissen, welche Farbe er trägt"
,,Er hat keine Farbe, Pax. Er ist durchsichtig. Eben Wasser"
Nachdenklich fuhr ich mir durch die Haare.
,,Ich dachte, Wasser wäre blau"
,,Ja, auch. Aber nicht immer. Wasser kann viele Farben haben: Dunkelblau, Hellblau, Grün, Türkis, Braun, schwarz, durchsichtig", meinte sie und bewegte ihren Kopf ein wenig.
,,Wasser kann schwarz sein?", fragte ich sie ein wenig irritiert, konnte mich nicht daran erinnern, dass ich jemals ein schwarzes Wasser gesehen hatte.
Ylva seufzte leise. ,,Ja, wenn es besonders tief ist. Loch Ness zum Beispiel, oder der Mariannengraben. Oder auch der Teich da vorne. Er scheint ziemlich tief zu sein, man sieht den Grund nicht"
,,Stille Wasser sind tief...", flüsterte ich dann leise, es war mir einfach eingefallen.
Wenn Wasser tief sind, dann sind sie also schwarz.
Ich bin auch schwarz.
Aber ist schwarz nicht bunt?
Bin ich dann bunt?
Oder sind tiefe Wasser bunt?
Irgendwie machte das alles nicht so viel Sinn...

Pax - Schwarz ist keine Farbe [✓]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt