12. Kapitel

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Der Regen prasselte noch immer laut gegen die Scheibe. Manche fanden es wohl beruhigend, mich machte es komplett verrückt.
Ich hatte den ganzen Tag noch nichts gegessen, und ich hatte auch nicht vor, dies zu ändern. Und das, obwohl ich Hunger hatte...
Nein, das war jetzt egal.
Was war mein Leben schon? Genau, nichts.
Es war egal.
Einfach egal...

Nachdenklich strich ich über das Buch, welches noch immer aufgeschlagen auf meinem Bett lag. Als würde Lucy gleich zurück kommen, als wäre alles gut.
Aber Lucy würde nie wieder zurück kommen.
Aber es war gar nichts gut.

Langsam stand ich wieder auf, lauschte.
Der Regen wurde mit der Zeit leiser, es war, laut meiner Uhr, die die Uhrzeit laut sagte, wenn man einen bestimmten Knopf drückte, bereits Nachmittag.
Bis auf den immer weniger werdenden Regen war es komplett still, nur das Uhrwerk meines Weckers lief unermüdlich. Sonst kein einziges Geräusch. Als würden sogar die ganzen Geräusche mich meiden.

Leise schlich ich den Gang hinunter, zu der Tür, die nach draußen führte. Und oh Wunder, ich fand diese. Sofort riss ich sie auf, trat nach draußen, und schloss die Tür hinter mir. Ich brauchte jetzt keine Stille.
Ein wenig überfordert stand ich da, unsicher, ob ich wirklich weiter gehen sollte. Doch dann tat ich es einfach, ging vorsichtig los. Der Regen tropfte immer noch vom Himmel, zwar nicht mehr so stark, aber immer noch so, dass mein T-Shirt ziemlich schnell nass war. Egal.
Kieselsteine stachen in meine Fußsohlen, leiteten aber meinen Weg. Mir war der unscheinbare, kleine Schmerz, den die Steinchen auslösten egal, komplett egal. Dieser Schmerz war nichts gegen meine Schmerzen in mir.
Ich fühlte mich schlecht, weil ich Ylva runter gemacht hatte, weil ich sie angelogen hatte.
Ich fühlte mich scheiße, weil ich sie einfach stehen gelassen hatte.
Ich fühlte mich schlecht, weil ich Lucy vermisste.
Lucy...
Der Weg veränderte sich, der Kies wurde zu Gras. Ich wollte zurückkehren, doch in diesem Moment stieß ich gegen einen Baum. Autsch.
Langsam ließ ich mich zu Boden sinken, lehnte mich an den Baum.
Dann blieb ich eben hier...
Als ich vorsichtig meine Füße ausstreckte, spürte ich, wie etwas Kaltes meinen rechten Fuß streifte. Es ging ein wenig nach unten, wie eine Grube. Doch da war irgendwas drinnen...
Langsam tastete ich mich mit meiner Hand voran.
Kalt.
Nass.
Wasser.
Es war Wasser.
Dann war dies sicher der Teich, den Ylva erwähnt hatte. Der schwarze tiefe Teich. Schwarz...
Ich rutschte wieder ein wenig zurück, ich konnte nämlich nicht schwimmen.
Nachdenklich lehnte ich mich wieder an den Baum, meine Augen waren geschlossen.
Und schon wieder sah ich etwas, ein Bild. Oder nein, es war eher wie ein Film, wie ein Traum, eine Erinnerung.
Der kleine Pax, wie er aufgeregt umherhüpfte. Neben ihm zog sich gerade mein Vater die Jacke an. Lucy hatte ihre Jacke schon an, band sich gerade die Schuhe.
,, Kommt schon, ihr braucht ja ewig", quengelte der Junge. Er war ein wenig älter, als ich ihn vorhin mit dem Buch, gesehen hatte. Etwa dreizehn. Moment, dreizehn? Scheiße...nein, nein.
Bitte nicht.
Ich wollte es nicht wieder sehen.
Ich wollte es nicht noch einmal erleben...
Ich hörte wie Lucy lachte, dem Jungen durch die Haare wuschelte.
Ich hörte, wie mein Vater leise seufzte.
Ich sah, wie meine Mutter dabeistand und die drei anlächelte.
Nein, bitte nicht.
Sie konnte zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen, was passieren sollte...
,,Pass gut auf die Kinder auf, Schatz", rief meine Mutter noch, gab meinem Vater einen Kuss, woraufhin er lächelte.
,,Mach dir keine Sorgen, wir machen doch nur einen Ausflug. Bis später Schatz"
,,Ja, tschüss Mama. Und ich bin kein Kind mehr", rief Pax noch, bevor er nach draußen lief.
Plötzlich verschwamm die Kulisse, alles war wie vorher.
Schwarz...
Erleichtert atmete ich auf.
Doch zu früh gefreut.
Schon tauchte eine neu Erinnerung auf.
Dieses Mal war ich in einem Auto, welches gerade auf einer Autobahn fuhr. Mein Vater fuhr, Lucy saß auf dem Beifahrersitz, war wohl eingeschlafen. Pax jedoch sah nach draußen, in die dunkle Nacht. Lange waren sie schon unterwegs, ich merkte, wie mein Vater müde war. Doch er fuhr immer weiter. Immer weiter und weiter.
Dann setzte er zur Überholung an.
Fuhr auf die zweite Spur.
In diesem Moment fuhr das andere Auto, welches mein Vater überholen wollte, nach links, in unser Auto.
Ich sah alles in Zeitlupe.
Wie Pax erschrocken die Augen aufriss, dann die Hände schützend vor sich hob.
Wie mein Vater nichts machen konnte, hilflos zusehen musste.
Wie er einfach wie gelähmt war, eher aus Reflex bremste.
Wie der andere Wagen in unseren krachte.
Wie Lucy nach vorne geschleudert wurde, und mit dem Kopf  hart gegen die Scheibe knallte, welche kurz darauf zerbarste.
Dann verschwand alles wieder.
Dann war es wieder still, alles wieder schwarz.
Der alte Pax war weg.
Mein Vater war weg.
Lucy war weg.
Ich wusste noch, wie ich kaum was mitbekommen hatte danach. Später, im Krankenhaus wurde mir mitgeteilt, dass es meinem Vater gut ging.
Doch Lucy...
Sie war tot.
Für immer.
Und sie würde nie wieder zurückkommen.

Schweißgebadet schaffte ich es meine Augen zu öffnen.
Doch es änderte nichts an dieser Schwärze.
Doch es änderte nichts an meiner Situation.
Ich hatte Lucy verloren.
Ich hatte meine Schwester verloren, die ich über alles liebte.
Wieder lief mir eine einzelne Träne über meine Wange.
Doch ich wischte sie weg.
Nein, ich konnte nicht mehr.
Nein, ich wollte nicht mehr.
Aber was sollte ich machen?
Ich hatte nun mal den Unfall überlebt.
Auch wenn ich danach nicht der Selbe war.
Es sei denn...
Langsam stand ich auf, ging einen zögerlichen Schritt nach vorne.
Doch dann änderte ich mich, schloss entschlossen meine Hände zu Fäusten.
Wer brauchte mich?
Wer liebte mich?
Wer wollte mich?
Ich fand nur eine Antwort darauf.
Lucy.
Meine Schwester.
Ich atmete tief aus, dachte nach.
Sollte ich das wirklich tun?
Ja.
Mein Leben war schwarz, alles war schwarz.
Schwarz und schwarz.
Perfekt...
,,Pax? Wo bist du? Pax? Was machst du da?!", hörte ich eine bekannte Stimme schreien.
Ylva.
,,Pax ist schon längst nicht mehr hier. Der Friede ist schon längst verloren gegangen", flüsterte ich leise.
Lucy, ich komme.
Lucy...
Und dann sprang ich.
Spürte, wie die Wellen des Teiches sich öffnen zu schienen.
Spürte diese Kälte.
Spürte, wie das Wasser mich schluckte, wie ich immer tiefer sank.
Spürte, wie sich schwarz und schwarz traf, wie ich immer schwärzer wurde.
»And I will leave the light on«, schallte Tom Walkers Stimme in meinen Kopf.
Doch für dieses Licht war es zu spät.
Ich würde nie wieder Licht sehen, nicht hier.

Lucy...
Ich muss zu dir.
Tut mir leid, Ylva.
Verzeih mir bitte.
Aber ich musste zu meiner großen Schwester.
Ohne sie kann ich nicht leben.
Ohne sie bin ich wertlos.
Dein Pax oder Ares
So hätte mein Abschiedsbrief ausgesehen.
Doch es würde wohl nie einen Abschiedsbrief geben...
Denn nun war ich weg...
Ich konnte nicht schwimmen, und ich wollte es auch nicht.
Ich ließ mich einfach nach unten ziehen.
Mir war es egal, wie kalt es war.
Mir war egal, das ich keine Luft bekam.
Ich hatte nie gedacht, dass mein Leben so enden würde.
Tschüss...

Pax - Schwarz ist keine Farbe [✓]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt