9. Kapitel

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Ein leises Quitschen, gefolgt von Schritten, weckte mich aus meinen wohligen Schlaf. Ich bemerkte, das ich gestern wohl mit dem Buch eingeschlafen bin...
Wer auch immer gerade in mein Zimmer gekommen war, würde sich sicher wundern, warum ich mit einem Buch, fest an mich gepresst, geschlafen habe.
Leise gähnte ich, blieb aber so liegen, wie ich war.
,, Morgen Pax, gut geschlafen?"
Okay, es war Ylva. Wer hätte es sonst sein können? Höchstens noch Sam. Aber ich glaubte nicht, das der jetzt schon unten im Dorf war. Okay, ich wusste auch nicht, wie spät es ist.
,,Mhm...wie spät ist es?", murmelte ich noch ein wenig verschlafen.
Sie lachte leise, setzte sich neben mich und wuschelte durch meine Haare, wie bei einem kleinen Jungen.
Das hat Lucy früher immer bei mir gemacht, da ich mich immer darüber geärgert hatte.
Lucy...
Nicht daran denken, Pax.
Einfach nicht daran denken.
,,Schon acht Uhr, und heute ist Samstag. Voll spät schon", gab sie mir dann zur Antwort. Acht Uhr in der Früh? War sie komplett verrückt? Wer stand jetzt bitte schon auf, es war Samstag... Aber naja. Ihre Entscheidung. Nur hätte sie mich nicht wecken müssen.

Sie wuschelte immer noch durch mein Haar. Gott, warum tat sie das? Doch auf einmal hielt das schätzungsweise gleichaltrige Mädchen inne.
,,Warum...warum schläfst du mit einem Buch?"
Ihre Stimme klang dabei irritiert, und ein wenig verwirrt.
Ich seufzte leise, strich über den weichen Einband. Wie sollte ich es ihr erklären?
Am besten gar nicht...

,,Darf ich mal lesen?"
Ich nickte etwas zögerlich, löste meinen starken Griff um das Buch, um es für sie freizugeben. Ylva nahm es, schien es zu betrachten.
,, Griechische Mythologie... interessant"
Sie schien das Buch aufzuklappen, um darin ein wenig zu lesen.
,,Woher hast du das? Und wieso? Ich mein, du kannst es ja nicht lesen...oder?"
Leise seufzte ich, setzte mich auf.
,,Nein, ich kann es nicht lesen. Auch wenn ich es gerne lesen würde. Ich hab es von...von einem Flohmarkt bekommen. Es war früher mein Lieblingsbuch", antwortete ich, ließ extra weg, dass Lucy es mir ja geschenkt hatte...
Ich wollte gerade einfach nicht an Lucy denken.
Auch wenn mir dies schwerfiel...

,,Soll ich dir was daraus vorlesen?", fragte sie mich nach einer Weile leise, zwischendurch hatte wiedermal Stille geherrscht. Nur der Regen hatte unberührt rhythmisch gegen das Dach und mein Fenster geprasselt, es regnete immer noch. Es schien, als hätte ihn die Stille nicht gekümmert, als wäre diese Stille wertlos gewesen...
Langsam nickte ich. Ja, ich wollte wieder hören, was mit all den Göttern, all den Helden passierte. Ich wollte mich wie früher fühlen: Normal und erwünscht. Einfach glücklich und sorgenfrei. Doch dies würde ich wahrscheinlich nie wieder sein...
Ich würde nie wieder wie früher sein. Dieses alte Ich, es war vorbei.
Alles vorbei, vergessen, vergeben.
Alles in die letzten Winkel in mir gestopft, weggeschmissen.
Alles, als wäre nie etwas gewesen, nie etwas passiert.
Als hätte es den alten Pax, den es dreizehn Jahre lang gab, nie gegeben.
Als hätte er, der wirkliche Friede nie gelebt.
Der jetzige Pax war nicht der, der der alte Pax war.
Der jetzige Pax war eigentlich schon tot.
Seine Seele war tot.
Nur sein Körper lebte noch.
Bis auf den Tag, an dem Ylva kam.
Sie hatte mich, den jetzigen Pax, nachdenken lassen.
Sie hatte mich gelernt, Farben in meiner Schwärze zu erblicken.
Gab es am Ende drei Pax?
Ich wusste es nicht, und beschloss meine Überlegungen auf später zu verschieben, und jetzt einfach Ylva zuzuhören.
Ylva.
Die Wölfin.
Die Wölfin, die mich gelehrt hat, die Strickleiter, die sie mir zugeworfen hatte, ein Stückchen hochzuklettern.
Die Wölfin, die mich gelehrt hat, dass eine Farbe mehr sein kann als eine Farbe.
Die Wölfin, die für mich da war...

So lauschte ich ihren Erzählungen, lächelte vor mich hin. Sie konnte gut lesen, das war klar. Auch gut vorlesen...
Ich schloss meine Augen, lehnte mich an die kühle Wand hinter mir. Auf einmal wurde ihre Stimme leiser, und leiser, und ich sah vor mir ein Bild, wenn auch etwas verschwommen. Aber es wurde mit der Zeit immer klarer und schärfer.
Ich sah einen kleinen Jungen.
Irritiert hielt ich inne.
Das war ich selbst.
Ich, als ich kleiner war.
Ich, als etwa zehn jähriger Junge.
Ich, der alte Pax.
Der Junge hielt einen mir sehr bekannten Gegenstand in den Händen. Es war ein Buch, dessen Einband war mit dunkelroten Samt überzogen, der Titel war mit goldenen Buchstaben verziert. Ich wusste was dort stand, ohne hinschauen zu müssen. Griechische Mythologie.
Der kleine Junge schleppte schwerfällig das Buch irgendwohin. Langsam folgte ich ihn, es war, als wäre es ein Traum. Ein wunderschöner Traum...
Suchend sah ich mich um. Wo war ich? Aber ja, na klar. Ich war in meinem alten Zuhause, das einzige, was ich als richtiges Zuhause empfand. Es war ein großes, etwas älteres Haus, und ich stand gerade vor einer Zimmertür. Das war doch der Raum von...
Bevor ich den Gedanken zu Ende denken konnte, öffnete sich die Tür, und vor mir stand SIE.
Sie.
Lucy.
Meine Schwester.
Ich wollte zu ihr, wollte sie umarmen, doch sie schien mich nicht zu sehen...
Es war, als wäre ich unsichtbar...
Aber ich sah sie zumindest.
Der kleine Pax bettelte, hielt ihr das Buch hin.
,,Bitte, bitte, Lucy, bitte lese mir was daraus vor", hörte ich seine Stimme.
Das Mädchen, etwa dreizehn, seufzte leise, und nahm das schwere Buch, um es mit in ihr Zimmer zu nehmen.
,,Na gut, damit du Ruhe gibst"
Ihre Stimme...sie klang so schön. Langsam lief mir eine Träne die Wange hinunter, als ich die zwei, den alten Pax und Lucy, beobachtete, wie Lucy ihm etwas aus dem Buch vorlas.
Dann berührte mich irgendwas bei der Wange.
,,Pax? Alles okay?", erklang eine Stimme.
Sofort verschwamm das Bild, ich wurde wieder in die Realität gezogen. Es war nur ein Traum, nur eine Erinnerung...
Es war vorbei.
Nie wieder würde ich Lucy sehen.
Nie wieder...

Pax - Schwarz ist keine Farbe [✓]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt