24. Kapitel

42 7 0
                                    

Eine Weile herrschte Stille im Raum.
Stille, undurchbrechliche Stille.
Der ganze Raum war damit ausgefüllt.
Dann räusperte sich Ylva leise.
,,Oh...äh...gehörte?"
Kaum hörbar seufzte ich auf, lehnte mich leicht an sie.
,,Ja, gehörte..."
,,Das heißt...sie...sie ist...tot?", flüsterte Ylva leise.
Langsam nickte ich.
Wieder kam dieses Trauergefühl in mir auf.
Das Gefühl, dass ich jemanden brauchte, den ich dafür die Schuld geben konnte.
Jemanden, den ich verurteilen konnte.
Jemand, an den ich meine Wut auslassen konnte.
Meine Wut, meine Trauer, meine Enttäuschung.
Doch es gab niemanden.
Niemanden außer mir...
Ich musste vergessen, aufhören die ganze Zeit nur zurück zu sehen.
Einfach so wie früher sein, auch wenn es schwer war.
Auch wenn es wahrscheinlich nie so wie früher war.
Ich war wahrscheinlich nicht einmal mit Lucy verwandt gewesen...
Und doch war und blieb sie meine Schwester.
Die, die mir immer geholfen hat.
Die, die mir gelehrt hat, wo es lang ging.
Die, die immer ein Lächeln und ein Licht für mich hatte.
Ich durfte mich nicht mehr von der Wahrheit verstecken.
Ich musste dazu stehen.
Ich musste Ylva die Wahrheit erzählen...
Ylva, die einzige Person, die noch wusste, wie sie das Licht in mir erhellen konnte.
,,Ylva...hör zu. Ich erzähl dir alles jetzt. Aber...es wird etwas dauern..."
Sie umarmte mich etwas.
,,Hey...ist gut, Pax. Du musst es nicht machen..."
Doch ich schüttelte meinen Kopf leicht.
,,Nein, Ylva. Ich muss es machen. Für dich. Für Lucy. Für mich..."
Ich seufzte leise.
,,Also ..."
So begann ich die ganze Geschichte zu erzählen.
Von früher.
Von meinen Eltern, meinem Vater und meiner Mutter.
Von dem Buch, welches in rotem Samt eingehüllt war, das mir Lucy geschenkt hatte.
Wie sie mir früher immer daraus gelesen hatte.
Von dem Ausflug.
Von der Autobahn.
Von dem anderen Auto.
Von Lucy, die eingeschlafen war.
Von dem Unfall.
Von dem Knall.
Von meiner Angst, meiner Panik.
Das ich durch den Unfall blind geworden bin.
Wie ich mir immer die Schuld gab.
Wie es mir damit, am Anfang vor allem, ging.
Ich redete so lange, bis mir nichts mehr einfiel was ich hätte sagen sollen.
All die Wörter und Sätze, die vorher wie von selbst aus meinem Mund gekommen waren, waren verstummt.
Stille herrschte wieder.
Ylva hatte die ganze Zeit über geschwiegen, mir einfach zugehört.
Nichts anders gemacht, sie war einfach da und hörte mir zu.
Ylva...
Sie war ein so wunderbares Mädchen.
Jedes einzelne Wort stimmte zu ihr, welches ich ihr geschrieben hatte.
Kein einziges war gelogen.
Alle entsprachen der Wahrheit, keine Lügen.
Nie wieder Lügen.
Mit Lügen verstrickt man sich nur noch mehr in ein Netz, aus welchen man vielleicht nie wieder herauskam.
Ein Netz, welches das Leben verdarb, das Leben nicht mehr lebenswert macht.
Leise seufzte ich auf.
Mir schwirrten so viele Gedanken durch den Kopf, so viele Gefühle.
Ylva schien es wohl nicht anders zu gehen, sie schwieg wie ich.
Das allbekannte Ticken meines Weckers war das Einzige, was zu vernehmen.
Tick.
Tack.
Tick.
Tack.
Wie eine Zeitbombe.
Doch noch war Zeit genug.
Noch war genug Zeit um zu leben.
Ich hörte, wie nun auch Ylva seufzte.
Dann, ganz langsam schloss ich sie in meine Arme, zog sie fest an mich.
Es fühlte sich so gut an.
Freundschaft...
Das war alles, was man braucht um zu leben.
Ohne Freundschaft ist es nicht einfach zu leben.
Man lebt nicht wirklich, man blüht nicht auf.
Freundschaft gibt noch mehr als Liebe es je kann.
Liebe ist kaum für immer.
Freundschaft jedoch schon.
Freundschaften können unendlich bis in den Tod gehen.
Wieder seufzte ich auf.
Nein, ich würde Lucy nicht vergessen. Nicht als Schwester.
Nicht als beste Freundin.
Nie.
Aber ich würde loslassen, sie gehen lassen.
Ich konnte sie nicht für immer festhalten, das ging nicht.
Es ging einfach nicht...
Aber ich würde mich auf das Hier und Jetzt konzentrieren.
Nicht in der Vergangenheit leben...
Ich umarmte Ylva fest.
,,Danke, Ylva, ich bin dir so unendlich dankbar. Du bist die beste Freundin die ich je hatte..."
Ylva lachte leise, strich mir durch meine Stirnfransen, bevor sie mir komplett durch die Haare wuschelte.
,, Ich dir auch, Friede, ich dir auch..."

So saßen wir eine Weile nebeneinander auf meinen Bett, umarmten uns.
Der Wind pfiff draußen um das Haus, rüttelte an den Rolläden.
Es störte mich nicht.
Ich bemerkte nicht, das dicke Flocken zu schneien fing, immer dichter und dichter.
Wie denn auch?
Ich war ja blind.
Ich würde es auch immer bleiben.
Aber eines hatte sich geändert:
Dieses schwarz war viel mehr.
Dieses schwarz war bunt, viele Farben ineinander gemischt.
Und nur mit bunt konnte dieses schwarz etwas wert sein.
Und das war es.
Ich war schwarz.
Ylva bunt.
Und dabei würde es immer bleiben...

Pax - Schwarz ist keine Farbe [✓]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt