Er reicht mir ein volles Glas mit der süssen rosa Prickligkeit, zieht und schiebt an seinem Sessel herum, bis dieser näher bei mir steht und setzt sich wieder.
„Cheers again. Auf uns. Auf was auch immer das hier...", er macht eine umfassende Handbewegung, „sein oder werden soll... Let's take it as a gift."
Unvermittelt drängt sich mir der Gedanke an seine Frau auf. Schnell schüttle ich ihn ab- sowas muss nicht zwangsläufig immer auf etwas Erotisches hinauslaufen. Obschon der dunkelblaue irische Ozean... Hör auf jetzt, ermahne ich mich selbst.
„Auf uns." Ich proste ihm entschlossen zu und wir trinken, ohne den Blick voneinander zu lösen.
„Sind wir verrückt?" platze ich unvermittelt heraus.
Er grinst schief.
„Das dachte ich anfangs auch. Ich dachte", er dreht mit seinem Zeigefinger kleine Kreise neben seiner Stirn, „I'm on my way to turn completely crazy. Aber offensichtlich existieren diese Dinge ja. Es hat nur nicht jeder einen Draht dazu. Oder nicht jedem passieren solche Dinge, bessergesagt. Der Verstand neigt dazu, alles zu rationalisieren. Und ist der Relativität ausgesetzt. Die Seele IST einfach. Da gibt es keine Relativität. Deshalb verlieren Zeit und Raum auch die Bedeutung bei Seelenbegegnungen, right? Also so erkläre ich mir das Ganze. Crazy stuff bleibt es allemal!" Er lacht herzlich. Ich finde seine Worte so passend.
„Du glaubst nicht, wie treffend ich deine Beschreibung finde und wie froh ich bin, dass du das so gut erklären kannst", versichere ich ihm. Er lächelt.
„Ich habe dir ja in meiner ersten Nachricht geschildert, was ich gesehen und gespürt habe", fahre ich fort. „Es haut mich um, dass das bei dir ebenso war. Das ist... Also ich meine, das ist ja echt..."
„Crazy", vervollständigt er meinen Satz.
„Ja, es ist der Wahnsinn. Passiert das so wenigen oder passiert das vielen und niemand redet davon?"
Er kratzt sich am Kinn. „Habe ich mich auch gefragt. I don't know."
Ich räuspere mich und sehe ihn direkt an. „Also die Sache mit dem Hafen..."
„Yeah, tell me about. Please. Ich kann damit nichts anfangen. Also was ich gesehen habe, meine ich. The visions", er macht eine kreisende Handbewegung.
Ich hole tief Luft. „Die Frau im Wasser war meine Schwester. Sie ist ertrunken und es war meine Schuld."
„Oh no", flüstert er und die Ozeanaugen haben einen gequälten Ausdruck angenommen. „I'm sure you're not... Was ist passiert?"
Ich erzähle ihm die ganze Geschichte. Von einem gemeinsamen Tag an der Nordsee vor drei Jahren, an dem meine Schwester ertrunken ist. Dass ich sie hätte retten können, wenn ich mir Gedanken gemacht hätte, wo sie so lange bleibt. Dass ich an dieser Schuld beinahe zerbrochen wäre und es heute manchmal noch befürchte. Und dass meine Ehe ein Jahr später daran zerbrochen ist. Ich erzähle ihm meine persönliche Hölle, als würde ich ihm aus einem Sachbuch vorlesen, denn wenn ich tiefer reingehen würde, würde ich emotional wieder an einen Abgrund geraten, der mir nur allzu vertraut ist. Aber momentan bin ich nicht stark genug, um mich wieder dort aufzuhalten. Während ich erzählt habe, habe ich ihn nur ab und zu flüchtig angesehen, aber jetzt am Schluss blicke ich wieder direkt in seine Augen und erschaudere. Noch nie habe ich so einen Ausdruck bei einem Menschen gesehen. Ein schmerzverzerrter, gequälter Ausdruck, der mir das Herz zerbricht und alles zuschnürt. Der irische Ozean hat sich dunkel verfärbt und sein Gesicht ist tränennass. Da fällt es mir wie Schuppen von den Augen: Er spiegelt MICH. Ich war während des Erzählens zwar ruhig und gefasst, aber sein Gesicht spiegelt mein Inneres. Es sind MEIN Schmerz und MEINE Qual, die ich sehe. Er steht auf, wischt sich über's Gesicht und flüstert: „Das tut mir so leid, ich weiss nicht, was..." Einem plötzlichen Impuls folgend springe ich auf und finde mich in seinen Armen wieder. Meine Güte, die Ozeanaugen-Flashs waren nichts im Vergleich dazu, wie sich diese Umarmung anfühlt. Ich bin durchflutet von jeder Emotion, die ein Mensch fühlen kann, potenziert um ein Tausendfaches fernab jeglicher Alltagserfahrung. Doch die allerstärkste Emotion ist Liebe. Allumfassende Liebe. Irgendwann ertappe ich mich dabei, dass ich kurz zu Boden linse, um sicherzugehen, dass wir nicht schweben. Ich habe jegliches Körpergefühl verloren, bin nur noch Emotion und habe nicht die geringste Ahnung, wie lange wir da so umschlungen stehen. Ich umarme einen eigentlich nach wie vor Fremden, aber bin durchflutet von Liebe zu ihm. Und er riecht so gut. Er riecht wie der Himmel auf Erden. Und er fühlt sich so gut an. Ich schmiege mich an den vertrauten Fremden und vergrabe meine Nase an seinem Hals. Irgendwann, es könnten Stunden vergangen sein, höre ich eine Stimme in meinem Kopf, die flüstert: „Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei. Aber die Liebe ist die Grösste unter ihnen." Oder hat er das gerade gesagt?
„Hast du eben den Korintherbrief zitiert?" murmle ich leise.
„Yeah. Das Hohelied der Liebe", raunt er zurück.
„Du hast das eben auch wieder gespürt", flüstere ich ungläubig, „diesen Rausch."
„I did." Ich spüre, dass er lächelt.
Langsam lösen wir uns aus dieser unfassbaren Umarmung und blinzeln uns an wie verschlafene Murmeltiere.
„Die Sache mit der Zeit und dem Raum", schmunzelt er, „die eben in der Umarmung wieder ausser Kraft gesetzt war..."
„Ja?" Erwartungsvoll lächle ich ihn an.
„Ist dir klar, dass es 03.30 Uhr ist?" Er zeigt auf die grosse Wanduhr hinter mir.
„Aber das kann doch nicht sein!" rufe ich aus. „Wir haben über sieben Stunden geredet?! Oder... War die Umarmung...?"
„I don't know! Lost in space, ne? Aber das scheint für Hunger nicht zu gelten. Hast du auch Kohldampf?" Er reibt sich grinsend den Bauch.
„Ich könnte definitiv was vertragen", kichere ich und staune abermals über die ganzen verstrichenen Stunden.
Er schnappt sich sein Handy und wählt eine Nummer. Wen ruft man bitte um halb vier Uhr morgens an, um...?
„Hi Paul, it's me." Während er beginnt zu sprechen, lacht er mich breit an. Aha, Lachfältchen-Paul scheint nicht nur Bodyguard und Fahrer sondern auch Lebensmittellieferant zu sein.
„Need some food for me and Miss lost in space."
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Soulgirl
FanfictionNach der schwersten Zeit ihres Lebens macht Louisa eine unerwartete Erfahrung, die ihre Seele wieder zum Leuchten bringt.