14. Come from the four winds, breath

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„Brauchst du noch etwas? Kann dir noch jemand etwas bringen?" fragt Burney und hebt einen Gitarrenkoffer vom Boden auf.
„Nein, danke", winke ich ab, „jemand anders hat mir gerade freundlicherweise einen Caipirinha gebracht und sonst brauche ich momentan nichts." Ich lächle entspannt. Es ist nämlich schon der zweite Caipirinha.
„Gut, und sonst schreist du einfach. Du bist der persönliche Gast vom Chef, da will keiner was falsch machen", zwinkert er mir zu und wuchtet den Gitarrenkoffer auf einen Stapel mit anderem Musiker-Krempel, der für mich nicht identifizierbar ist.
„Ach, Paddy tut bestimmt keinem was", gebe ich amüsiert zurück, aber Burney rümpft gespielt die Nase und schwenkt seine Hand hin und her. „Er ist ein herzensguter Mensch, kann aber manchmal schon seine cholerische Seite raushängen. Das ist dann weniger lustig." Er verdreht übertrieben die Augen und zwinkert mir zu. Ach. Paddy ist cholerisch? Das ist ja mal interessant.
„Na dann ist ja alles gut, denn jedermann hat sich ganz toll um mich gekümmert", lächle ich. Burney schnappt sich irgendwas vom unidentifizierbaren Stapel, zwinkert mir nochmal zu und weg ist er. Da wäre ich nun also. Ich atme tief durch. Ohne den Caipirinha und mein Päckchen wäre ich jetzt das reinste Nervenbündel. Ich sollte mich was schämen. Innerlich gluckse ich aber vor mich hin. Seit drei Jahren habe ich mich nicht mehr so lebendig gefühlt. Ich möchte das Leben aufsaugen, riechen, schmecken, fühlen, mit allem, was es mir zu bieten hat. Und das Erste davon ist der Song. Ich bin wahnsinnig gespannt; auch darauf, wie er ihn ins Programm einbinden wird und was er dazu sagen wird. Auch entspannt es mich, dass ich mich in einer Ecke platziert habe, von wo aus ich ihn seitlich sehen kann, er mich aber nicht. Das gibt mir eine kleine Sicherheit im grossen Unbekannten.
Im Publikum sehe ich alle möglichen Flaggen von jeglichen Ländern. Manche haben Plakate gebastelt oder tragen T-Shirts mit seinem Konterfei auf der Vorder- und den Tourdaten auf der Rückseite. Es ist ein Openair und die Leute schwitzen und stehen dicht gedrängelt. Um 20.00 Uhr wäre Beginn gewesen, jetzt ist es 20.10 Uhr. Das merkt man der Menge an; die Stimmung wird unruhig, man hört Sprechgesänge und Klatschen. Sie alle wollen Paddy. Das alles steckt mich irgendwie an, ich werde hibbelig und nehme nochmal einen grossen Schluck vom Caipirinha. Jetzt erklingt etwas, das sich wie ein überlauter Herzschlag anhört, und die Ersten im Publikum kreischen. Die Bandmitglieder kommen nacheinander auf die Bühne und nehmen ihre Plätze an Gitarre, Bass, Keyboard und Schlagzeug ein- deshalb das Gekreische. Von Paddy jedoch noch keine Spur. Ich erinnere mich nicht mehr, ob das bei meinem ersten Konzert von ihm auch schon so war. E-Gitarre und Schlagzeug krachen gleichzeitig die ersten Töne an und die Menge ist nicht mehr zu halten. Der erste Song. Nach ein paar Takten höre ich plötzlich seine Stimme. Ich wende den Kopf vom Publikum weg zur Bühne zurück, und da steht er am Mikrofonständer, auf einer Art Podest, ganz hinten auf der Bühne. Ganz der Showman. Stadion-Paddy in the house. Und wieder so viel Nähe. Dies in Verbindung mit seiner Stimme, die durch mich hindurchströmt- es ist fast zu viel des Erträglichen. Alles an ihm wirkt professionell, seine Ausstrahlung, seine Bühnenpräsenz, seine Mimik. Während eines langsamen Zwischenteils nimmt er das Mikrofon aus der Halterung, hebt den Mikrofonständer hoch und reckt ihn im Takt in die Höhe. Dazu springt er aufreizend langsam erst von seinem Podest, dann immer eine Stufe tiefer, auf jeder Stufe wieder lange verharrend, bis kurz vor die grosse Fläche vorne. Gleichzeitig mit einigen schnellen Schlägen des Schlagzeugs, als der Refrain wieder beginnt, schiesst er jetzt plötzlich an die vorderste Kante der Bühne, und die ersten Reihen explodieren förmlich. Puh, ja plötzlich so viel Nähe, was? denke ich schmunzelnd. Das kennt man doch irgendwoher. Während ich staunend beobachte, wie er beim zweiten Song die Lederjacke auszieht und die Menge zum Kochen bringt, kann ich es wieder nicht mehr fassen, dass ich eine Nacht mit diesem Mann im Hotelzimmer verbracht habe. Mit jemandem, den man aus dem Fernsehen kennt. Mit Stadion-Paddy. Mit Showbiz-Paddy. Ich glaube, nur Caipirinha und Päckchen sei Dank kriege ich keinen hysterischen Anfall. Ich fühle mich schon nach zwei Liedern komplett neben der Spur, und „unseren" Song habe ich noch gar nicht erst gehört. Ich brauche mehr Caipirinha.

SoulgirlWo Geschichten leben. Entdecke jetzt