Noch eine ganze Woche geschieht nichts. Ich halte mich nicht schlecht und kann mich sogar auf der Arbeit wieder besser konzentrieren. Bis zu der Nacht, in der ich zum zweiten Mal von Paddy träume.
Schnellen Schrittes marschiere ich durch die verwinkelten Gassen von Dublin. Ich weiss genau, wo ich hin muss: Zur Ha'penny Bridge. Ich muss bis zur Mitte, weiss aber nicht, wieso. Als ich mich der Brücke nähere, höre ich Musik. Eine Männerstimme, begleitet von einer Gitarre. Sofort wird mir klar, dass er es ist, der singt. Ich würde seine Stimme unter Tausenden erkennen. Nun kann ich ihn sehen. Er steht auf der Mitte der Brücke, in einem schwarzen Wintermantel, dessen Kragen er bis über's Kinn hochgezogen hat. Seine Wangen und Nase sind vor Kälte gerötet. Vor ihm auf dem Boden liegt ein aufgeklappter Gitarrenkoffer, in den Passanten Münzen werfen. Das Lied, das er singt, hört sich nach einem alten irischen Volkslied an. Ich bleibe stehen und werfe lächelnd eine Münze in den Koffer. Mitten im Lied hört er auf zu singen. Wir stehen beide da und lächeln. Er dreht die Gitarre auf den Rücken und breitet die Arme aus. Ich mache ein paar Schritte auf ihn zu, und wir verschmelzen wieder ineinander. Wie schon in der Bucht unter den Klippen. Es ist die selbe Umarmung, nur an einem anderen Ort.
„Sie liebt mich noch immer", sagt er plötzlich, rückt ein Stück von mir ab, lässt mich aber nicht los.
„Deine Frau?" frage ich leise.
„Ja. Alles in mir zieht es zu dir, aber ich kann nicht vor und nicht zurück. Nicht vor und nicht zurück. Nicht vor und nicht zurück."
Während er diese Worte wiederholt, schwenken wir, immer noch umschlungen, vor und zurück, als würden wir tanzen.
Als ich Luft hole, um etwas zu sagen, stoppt die Bewegung.
„Das ist dein Kopf", sage ich leise und streichle ihm zärtlich über die Haare. Er schliesst die Augen. Ich lege meine Hand auf sein Herz.
„Und das ist dein Herz. Lass dein Herz sprechen, beautiful soul."Ich wache auf und fühle mich ganz benommen. Dieser Traum war fast noch verrückter als der Erste. Ob es diese Brücke wirklich gibt? Wohl kaum. Penny was? Ha'penny Bridge, genau. Und ich habe IHN dieses Mal ‚beautiful soul' genannt. Interessantes und verwirrendes Detail. Zum Glück ist heute Samstag, sonst wäre das wieder ein überaus unkonzentrierter Bürotag geworden. Ich werde es heute ganz gemütlich angehen. Also erst mal Kaffee. Ich beschliesse, beim Kaffeetrinken zu googeln, ob diese Brücke wirklich existiert. Als ich mit der dampfenden Kaffeetasse an meinem Küchentisch sitze, werfe ich zum ersten Mal, seit ich aufgewacht bin, einen Blick auf mein Handy.
mi.pa.kel hat dir eine Nachricht gesendet, meldet Instagram. Mein Puls rast. Ausgerechnet heute schreibt er wieder. Nach zwei vollen Wochen.MPK: Ha'penny bridge tonight? XoXo
Ich springe reflexartig auf. Kurz wird mir schwarz vor Augen. Mein Herz. Nach jeder Begebenheit, seit er in mein Leben getreten ist, bin ich der felsenfesten Überzeugung, das könne jetzt nichts mehr toppen. Und dann passiert schon das Nächste und das Nächste, und jedes Ereignis ist wieder unglaublicher als das Letzte.
Ich muss ihm sofort antworten.L: Vor und zurück? Vor und zurück? Das ist dein Kopf, das ist dein Herz, beautiful soul? XoXo
Sofort erscheint unter meiner Nachricht „Gelesen", aber es kommt lange nichts zurück. Ich weiss genau, dass auch er seinen Augen nicht trauen kann, nachdem er gelesen hat, was ich geschrieben habe. Wem würde es nicht so gehen? Als ich bald befürchte, dass nichts mehr von ihm kommt, steht endlich wieder „Schreibt". Dann der rettende Benachrichtigungston.
MPK: I'm feeling like I'm loosing my fucking mind! But I miss you like crazy, soulgirl.
L: Miss you, too...
MPK: Need to talk. Ich hole dich nächsten Samstag um 20.30 Uhr ab.
Das ist jetzt wieder typisch seine selbstgefällige Art. Ich hole dich ab, tss. Zufälligerweise habe ich kommenden Samstag noch nichts vor.
L: Du fährst selber?
MPK: Jap. CU
Irgendwie klingt er genervt. Ok, es ist ihm sicher durch Mark und Bein gegangen mit dem erneuten Traum. Mir ja auch. Und seinem Gefluche nach zu urteilen, ist er sich seit meiner ersten Antwort schon so oft durch die Haare gefahren, dass er einen Jahrhundert-Wuschelberg auf seinem Kopf haben muss. Bei der Vorstellung muss ich lächeln. Trotz der ganzen verrückten Sache ist das alles einfach nur magisch, und ich weiss mit absoluter Sicherheit, dass einem so etwas nur ein Mal im Leben passiert- wenn denn überhaupt. Aber ich habe gut reden, ich bin ja auch nicht der verheiratete Part in der Geschichte. Plötzlich frage ich mich zum ersten Mal ernsthaft, was ich mir eigentlich erhoffe. Ich muss mir eingestehen, dass es eigentlich spätestens seit der Situation im Backstageraum klar war: Ich liebe ihn nicht mehr nur als Seelenpartner, oder wie man das auch immer nennt. Und ich habe Angst, dass er bei seiner Frau bleibt.
DU LIEST GERADE
Soulgirl
FanfictionNach der schwersten Zeit ihres Lebens macht Louisa eine unerwartete Erfahrung, die ihre Seele wieder zum Leuchten bringt.